Vor fast einem Jahr wurde die Kurdin Jîna Mahsa Amini von der iranischen Sittenpolizei in Teheran ermordet. Seitdem gehen tausende Menschen in Ostkurdistan und Iran auf die Straßen, um für ihre Freiheit zu kämpfen. Mit ihrem Widerstand tragen sie den Slogan Jin-Jiyan-Azadî (Frau-Leben-Freiheit) in alle Welt – so auch zu uns. Deswegen startet Women Defend Rojava in Deutschland zum elften Jahrestag der Frauenrevolution in Rojava am 19. Juli 2023 eine Kunstaktion und lädt dazu ein, sich intensiv und künstlerisch mit der Bedeutung von Jin-Jiyan-Azadî auseinanderzusetzen: „Kommt zusammen und gestaltet Plakate, die diese Philosophie für euch ausdrücken. Malt Bilder, zeichnet Portraits, sprayt Graffiti, bastelt Collagen, schreibt Gedichte – egal ob beim Straßenfest, in einem Women Defend Rojava-Café oder bei einem Nachmittag mit Freund:innen.“
In dem Aufruf heißt es weiter:
Jin, Jiyan, Azadî – Zan, Zendegi, Azadi – Frau, Leben, Freiheit. Drei Worte, die es schaffen, weltweit Menschen zu verbinden und Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu verbreiten. Und das in einer Zeit der kapitalistischen Umweltzerstörung und kriegerischen Zuspitzung. Patriarchale Gewalt und faschistische Bedrohungen nehmen ebenso zu wie gesellschaftliche Spaltung. Autoritäre Kräfte werden weltweit immer stärker und mit ihnen Frauen- und LGBTIQ-feindliche Stimmen. Rassistische und koloniale Verhältnisse werden zementiert und Widerstände dagegen mit brutaler Gewalt beantwortet. Es ist nötiger denn je zusammenzukommen und eine eigene starke Antwort auf die drängenden Fragen unserer Zeit zu entwickeln. Es geht darum, Lösungsperspektiven aufzuzeigen, die Probleme an der Wurzel angehen und konkrete Handlungsoptionen eröffnen.
Welche Perspektiven zeigen sich uns, wenn wir den Jin, Jiyan, Azadî-Rufen folgen? Hinter Jin, Jiyan, Azadî steht eine revolutionäre Bewegung zur Befreiung des Lebens, zur Befreiung der Menschen von jeglicher Form der Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt. Entstanden aus der kurdischen Freiheitsbewegung, zeigt sie uns konkrete Ansätze für ein ökologisches, geschlechterbefreites und basisdemokratisches Leben. Den Ursprung dieser Parole und Philosophie finden wir in den Schriften Abdullah Öcalans, in der Gründung der PKK, in der Frauenbefreiungsideologie, im Leben der Guerilla in den freien Bergen Kurdistans, im Widerstand der politischen Gefangenen in den türkischen und iranischen Foltergefängnissen, in der Gründung der Jineolojî, im Kampf der kurdischen Frauen gegen das mörderische System des sogenannten „Islamischen Staates”, in der Frauenrevolution in Rojava / Nord- und Ostsyrien, auf den Straßen Irans nach der Ermordung von Jîna Mahsa Amini und in den trotz brutaler Hinrichtungen anhaltenden Aufständen.
Doch wofür genau kämpfen Menschen, wenn sie Jin, Jiyan, Azadî rufen? Jin und Jiyan, also Frau und Leben, stammen im Kurdischen von der gleichen Wortwurzel. Das symbolisiert den engen Zusammenhang zwischen der Bedeutung der Frau und dem Leben. Azadî bedeutet Freiheit. Die Freiheitsbewegung Kurdistans sieht in der Entstehung des Patriarchats vor 5000 Jahren den Beginn von Macht und Herrschaft. Mit der Unterdrückung der Frau ging die Ausbeutung der Natur, die Aufteilung in Klassen, die Entstehung von Staaten und Privateigentum einher. Daraus entwickelte sich ein ganzheitliches System, das wir heute das kapitalistische Patriarchat nennen. Ein System, das darauf ausgerichtet ist, alles Lebendige bis zu seiner Zerstörung auszubeuten.
Was können wir dem entgegensetzen?
Jin, Jiyan, Azadî verdeutlicht, dass der Weg zur Befreiung des Lebens über die Befreiung von Frauen und damit aller Geschlechter gehen wird. Nur wenn wir das Patriarchat in seinen unterschiedlichen Facetten gemeinsam angreifen, sind wir in der Lage, alle Unterdrückung und Ausbeutung zu beenden. Jin, Jiyan, Azadî steht für eine naturverbundene, anti-koloniale und geschichtsbewusste Haltung. Jin, Jiyan, Azadî ist nicht vereinbar mit den kapitalistischen, rassistischen und imperialistischen Machtansprüchen der Staaten und Monopole – denn die Lösungskraft liegt in der Gesellschaft selbst. Jin, Jiyan, Azadî ist vielfältig, bunt und lebendig.
Als Kampagne Women Defend Rojava beziehen wir uns eng auf die Ideen und Perspektiven der Freiheitsbewegung Kurdistans. An der Seite der Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien stellen wir uns gegen die feminizidialen und rassistischen Angriffe durch den türkischen Staat. Der gesellschaftliche Aufbau der Selbstverwaltung in Rojava / Nord- und Ostsyrien zeigt uns, dass ein freies Zusammenleben möglich sein kann. Deswegen gilt es, sie mit unserem Widerstand weltweit zu verteidigen. Als Kampagne haben wir es uns seit 2019 zur Aufgabe gemacht, die Errungenschaften der Frauenrevolution sichtbar und bekannt zu machen. Wir vernetzen uns dafür mit anderen feministischen Kräften, organisieren Aktionen und Veranstaltungen und ziehen Kraft aus unserer autonom-feministischen Organisierung. Wir wissen auch um unsere Verantwortung als Menschen in Europa, machen auf die Rolle Deutschlands im Krieg in Kurdistan aufmerksam und stellen uns gegen die kriegerischen Machenschaften der Staaten und Monopole. Wir folgen darin dem Weg von Frauen wie Jîna Mahsa Amini, Nagihan Akarsel, Jiyan Tolhildan, Sakine Cansiz, Ivana Hoffmann und Sarah Handelmann. Jin, Jiyan, Azadî ist für uns darin Parole, internationale Verbundenheit, Leitidee und Hoffnungsschimmer.
Denn Jin, Jiyan, Azadî bedeutet, das Leben zu verteidigen
Als Women Defend Rojava laden wir alle dazu ein: Lasst uns Teil der Jin, Jiyan, Azadî-Bewegung werden und neue feministische Kräfte in uns wecken. Lasst uns ein starkes Zeichen an die kämpfenden Frauen in Kurdistan und an alle widerständigen Geschlechter weltweit schicken und unsere Selbstorganisierung auch hier vorantreiben. Lasst uns zusammenkommen, diskutieren und kreativ aktiv werden. In welchen Momenten und Begegnungen in unseren Leben wird die Jin, Jiyan, Azadî-Philosophie spürbar? Wie hilft sie uns, die rassistischen, sexistischen, klassistischen Spaltungen zwischen uns und in uns zu überwinden? Welche Bilder aus unserer Geschichte, Gegenwart und Zukunft zeichnen ein selbstbestimmtes und widerständiges Leben in Gemeinschaft? Welche Symbole in unseren Träumen sind Anker unserer Hoffnung und Wege raus aus der Angst und Passivität? Aus welchen Geschichten schöpfen wir Stärke und Lebensfreude? Wie können wir unsere kreativen, schöpferischen Kräfte nutzen, um uns und die Gesellschaft zu befreien?
Jin, Jiyan, Azadî lehrt uns, das Potenzial für Veränderung in uns und der Gesellschaft zu sehen: Wir alle sind Künstler:innen des Lebens und können es gemeinsam in all seinen Farben und Formen zum Strahlen bringen.
Die Ergebnisse Eurer kreativen Arbeiten wollen wir gerne dokumentieren und veröffentlichen. Deswegen bitten wir Euch: Schickt uns Eure Plakate (oder Fotos/Scans) mit ein paar Angaben, wo und von wem sie gemacht wurden per E-Mail an [email protected]. Postet sie gerne auch mit dem Hashtag #JinJiyanAzadiWDR und verlinkt uns auf Instagram, Twitter und/oder Mastodon. Gerne wollen wir mit euch in der Zukunft eine Ausstellung organisieren oder Plakate/Postkarten/Sticker drucken und verteilen. Den Aufruf in anderen Sprachen oder andere Neuigkeiten zur Plakataktion findet Ihr unter https://womendefendrojava.net/de/plakat-aktion/.
Wir sind gespannt auf eure Ideen und Plakate. Die Probleme unserer Zeit verlangen Antworten von uns – Lasst uns die feministischen Fäden weiter spinnen und zur Tat schreiten. Jin, Jiyan, Azadî!