„Ihr seid doch selbst schuld“

Gewaltopfer werden oft selbst für die Tat verantwortlich gemacht. Nihan Damarlı von der Stiftung Frauensolidarität in Ankara hat die Erfahrung gemacht, dass es für Frauen, die von Gewalt betroffen sind, bei der Polizei meist am schlimmsten ist.

In der Türkei wird Gewalt gegen Frauen zu einem immer größeren Problem. In den ersten elf Monaten des Jahres 2017 wurden 456 Frauen von Männern ermordet. Tausende Frauen waren psychischer, physischer, sexueller oder wirtschaftlicher Gewalt ausgesetzt. Nach Angaben der Stiftung Frauensolidarität, die zu dem Thema arbeitet, ist die psychische Gewalt mit 79 Prozent am weitesten verbreitet. In 55 Prozent der Fälle handelt es sich um körperliche Gewalt. Diesen Gewaltformen folgen wirtschaftliche, sexuelle, digitale und weitere Gewalt.

Bei den Tätern handelt es sich in 57 Prozent der Fälle um den Partner des Opfers. Nach den Partnern sind es Freunde und Bekannte, Ex-Partner und Familienangehörige, die am meisten Gewalt gegen Frauen anwenden.

Hauptgrund ist die gesellschaftliche Geschlechterungleichheit

Nihan Damarlı ist Mitarbeiterin der Stiftung Frauensolidarität in Ankara. Ihrer Meinung nach ist die Geschlechterungleichheit in der Gesellschaft der Hauptgrund für Gewalt gegen Frauen: „Männer wachsen in dem Glauben auf, dass sie es dürfen. Sie betrachten es als ihr Recht. Diese Überzeugung wird mit verschiedenen Begründungen konsolidiert. Der Staat erkennt viele Umstände als strafmildernd an: Alkoholkonsum, Arbeitslosigkeit oder Gewalterfahrungen in der Kindheit. Es ist jedoch eine falsche Vorstellung, dass alle männlichen Gewalttäter Psychopathen sind. Es sind auch nicht alle Alkoholiker oder arbeitslos. Einige haben einen ‚ehrenwerten‘ Beruf und gehören der Mittel- oder Oberschicht an.“

Anfragen von 336 Frauen im Jahr 2016

Die Stiftung arbeitet zum Thema gesellschaftlicher Geschlechtergleichheit und engagiert sich insbesondere im Kampf gegen Gewalt an Frauen, erzählt Nihan Damarlı. 2016 hätten sich 336 von Gewalt betroffener Frauen an die Stiftungszentren gewandt. Monatlich werden durchschnittlich 30 Frauen unentgeltlich psychisch und juristisch unterstützt. „Wir arbeiten nach feministischen Prinzipien“, erklärt sie weiter. „Wir beschuldigen und verurteilen die Frauen, die Gewalt erfahren haben und uns gegenüber sitzen, nicht für das, was sie erlebt haben. Wir hören ihnen zu und versuchen dabei ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, damit sie sich öffnen. Das aktive Zuhören ist dabei eine wesentliche Methode. Wir machen Risiko- und Bedarfsanalysen. Wir versuchen herauszufinden, ob eine dringende oder riskante Situation vorliegt. Wir hören uns die Geschichte an und versuchen zu erfahren, was die jeweilige Frau selbst machen will und wie sie denkt. Wir treffen niemals Entscheidungen für die Betroffenen, sondern warten immer die eigene Entscheidung ab, aber wir zeigen mögliche Alternativen auf. Es kommen auch von außerhalb Ankaras Frauen zu uns und nicht alle Anfragen haben etwas mit Gewalt zu tun.“

Abwertenden Reaktionen ausgesetzt

Die Stiftung beobachtet auch, wie andere Mechanismen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen funktionieren. Vor kurzem sei ihr Jahresbericht dazu veröffentlicht worden, sagt Nihan Damarlı. Der Bericht bilanziert die im Gespräch mit betroffenen Frauen erfassten Angaben zu ihren Erfahrungen mit der Polizei oder in Einrichtungen, die juristische und gesundheitliche Dienstleistungen anbieten, so Nihan. „In diesen Institutionen sind Frauen meistens einer abwertenden und anklagenden Haltung ausgesetzt. Das ist in einem großen Teil der Fälle so. Es passiert auf Polizeirevieren, in Schutzhäusern und auch bei der Staatsanwaltschaft.“

Am schlimmsten ist es bei der Polizei

Sind Frauen von Gewalt betroffen, wenden sie sich am ehesten an die Polizei, meint Nihan. „Dort ist es am schlimmsten. Frauen werden auf Polizeirevieren sehr schlecht behandelt. Sie werden falsch informiert, selbst für die Situation verantwortlich gemacht, zur Versöhnung gedrängt, zurück nach Hause geschickt, ihre Anzeige wird gar nicht erst aufgenommen oder lückenhaft protokolliert. Meiner Meinung ist der Grund dafür, dass die Polizisten sich mit dem Gewalttäter identifizieren. Als erste Reaktion erfolgt die Vermutung, dass die Frau selbst schuld ist. Wir kennen zum Beispiel einen Fall, in dem eine Frau, die sexuelle Gewalt erlitten hatte und unmittelbar danach zur Polizei gegangen war, zwölf Stunden lang warten musste, ohne dass ihre Anzeige aufgenommen wurde. Während dieser Wartezeit kommentierten die Beamten ihren Zustand mit Sprüchen wie ‚Habt ihr euch beim Geld nicht einigen können? Wer weiß, was du getan hast…‘. Handelt es sich bei dem Gewalttäter um ein Familienmitglied, heißt es: ‚Es ist doch dein Vater, Bruder, Ehegatte, klärt das unter euch, ihr vertragt euch schon wieder‘. Die Aussagen der Regierung und staatlicher Stellen finden sich entsprechend auch bei der Polizei wieder. Wenn der Mensch an der Spitze sagt, dass er nicht an die Gleichberechtigung von Mann und Frau glaubt, färbt sich das ab.“

MA / Diren Yurtsever