Es war Anfang Oktober. Die türkische Invasion auf Rojava hatte noch nicht begonnen. Das Wetter über den von der großen Hitze ausgetrockneten fruchtbaren Böden war immer noch heiß, als eine der Frauen des Dorfes erklärte: „Die Temperaturen werden auf 45 Grad steigen. Das ist für die Nutzung der Sonnenenergie gut“.
Stellen Sie sich ein außergewöhnliches Dorf vor. Es befindet sich nicht an einem Fluss, ist nicht umgeben von Bergen, nicht in einer bewaldeten Schlucht und schon gar nicht an einem entfernten Meeresufer oder gar auf einer Insel gelegen. Nein, es liegt mitten in einem vom Krieg zerstörten Gebiet.
Nun stellen Sie sich vor, wie dieses Dorf unter der permanenten Bedrohung des Krieges aussieht. Ist es ein selbstverwaltetes Dorf? Dies ist sehr gut möglich. Ist es ein Dorf, in dem trotz der Grausamkeit des Krieges ein friedliches Leben geführt wird? Warum nicht. Aber all das reicht nicht aus, um die Originalität dieses Dorfes zu beschreiben. Wir sprechen hier von einem Frauendorf. Einem Dorf, das von Frauen aufgebaut wurde, von Frauen verwaltet und von Frauen verteidigt wird. Die Einwohnerinnen des Dorfes bauen ihre Häuser, pflanzen Bäume, kultivieren Gemüse, ernten Trauben und halten Tiere, sogar Pfauen.
Ein ökologisches Dorf
Das Dorf liegt in einem landwirtschaftlichen Gebiet, auf trockenem und flachem Land wurde hier ein ökologisches Leben aufgebaut. Manche Häuser wurden kuppelförmig aus Lehm errichtet. Das Mitglied der Jinwar-Kommission der Akademie für Jineolojî, Rûmet, erklärt: „Diese Häuser sind perfekt sowohl gegen Kälte als auch gegen Hitze, sie sind im Sommer kühl und im Winter warm.”
In den Gärten des Dorfes und auf den kollektiven Produktionsflächen werden Tomaten, Peperoni, Kürbisse, Gurken, Okra, Auberginen, Kartoffeln, Erbsen, Sonnenblumen, Oliven, Honigmelonen und auch Spinat angebaut. Aber nicht nur das, auch Aprikosen, Granatäpfel, Gerste, Weizen, Linsen und Kichererbsen werden produziert. Alles wird auf ökologische und nachhaltige Weise angebaut und zielt darauf ab, sich ökonomisch unabhängig zu machen. Teilen macht den Geist des Dorfes aus. Die Frauen teilen sich die Arbeit wie auch die Freude.
Die Einwohnerinnen des Dorfes Jinwar sagen, ihr Dorf sei wie die syrische Steppenraute. Die Steppenraute verkörpere die Fülle, die Zerstreuung negativer Energie und den Kalender der Frau.
Nimet, eine der Verantwortlichen im Dorf, erklärt: „Das Dorf befindet sich in der Nähe von Feldern. Es wurde in einem sehr trocknen Gebiet von Grund auf errichtet. Es wurde mit Bäumen bepflanzt und durch die Gärten zu einem wahren Paradies gemacht.“
Die Einwohnerinnen des Dorfes beschränken sich aber nicht nur auf materielle Produktion, das wichtigste ist die Selbstbildung. Es finden Aktivitäten zum freien Leben und Bildungsangebote zur Jineolojî, der Frauenwissenschaft, statt. Die Jineolojî wurde ab 2012 von der kurdischen Frauenfreiheitsbewegung entwickelt und ist mittlerweile zum Teil des offiziellen Lehrplans in der Föderation Nord- und Ostsyrien geworden. Auch an den Universitäten von Rojava werden Vorlesungen in Jineolojî angeboten.
Das Frauendorf Jinwar liegt im Westen von Dirbêsiyê im Kanton Hesekê. Die Planung des Projekts begann im Jahr 2016 und der Aufbau am 10. März 2017. Das Dorf wurde offiziell am 25. November 2018 eröffnet. In dem Dorf leben Frauen mit verschiedener Herkunft. Neben Ezidinnen, Christinnen, Muslimas, Kurdinnen, Suryoye und Araberinnen nehmen auch Frauen von überall aus der Welt am Dorfleben teil.
Der Gesellschaftsvertrag der Frauen
Wie im Gesellschaftsvertrag vorgesehen, besteht das Dorf aus 30 Häusern verschiedener Größe, einer Schule, einer Akademie, einem Gesundheitszentrum, einer kommunalen Küche, dem Spielbereich für Kinder, einem kleinen Laden, einem Stall, zwei Schwimmbecken, einem Depot, einem Garten mit 1.400 Bäumen und einem Dorfplatz.
Rûmet berichtet: „Bis jetzt haben 28 Frauen einen Antrag gestellt und sind ins Dorf gekommen. Hunderte Frauen nahmen an den Diskussionen teil, weitere 18 Frauen haben sich hier niedergelassen. 40 Kinder leben mit ihren Müttern im Dorf. 28 von ihnen gehen in Jinwar zur Schule."
Rûmet sagt, dass trotz Jahrtausenden patriarchaler Herrschaft das Matriarchat in der Gesellschaft Rojavas noch vorhanden sei. Sie fährt fort: „Die historische und alltägliche Gesellschaftlichkeit lässt dieses Erbe deutlich zu Tage treten. Außerdem haben die Frauen in der auch als Frauenrevolution bezeichneten Revolution von Rojava dieses Erbe konkretisiert und auf eine andere Ebene gehoben. Im System der Ko-Vorsitzenden, den Frauenzentren (Mala Jin), den Stiftungen, den Kooperativen und in der Selbstverteidigung haben Frauen sich organisiert und entscheidende Positionen inne. Mit den Akademien für eine demokratische Gesellschaft wurden viele Dimensionen des Lebens erreicht; von der kommunalen Ökonomie über die Paarbeziehungen, das Gesundheitswesen bis hin zu Lösung demografischer Probleme und der Organisierung von Frauen im Justizbereich. Ein Teil dieser Entwicklungen für den Aufbau einer demokratischen Nation und eines kollektiven Lebens ist nun auch das Dorf Jinwar geworden.“
Ein Modelldorf
Das Dorf Jinwar basiert auf demokratischer Selbstorganisierung. Rûmet berichtet, dass es an vielen Orten auf der Welt Dörfer oder Siedlungen gebe, die sich als Frauendörfer bezeichnen. Jinwar sei jedoch unvergleichbar: „Dass es einen Bereich darstellt, indem ein eigenes Lebenssystem aufgebaut wurde, das sich auf eine ökologische Ökonomie stützt und an dem Frauen mit den verschiedensten Hintergründen teilnehmen, ist ein Novum.“ Ohne Zweifel sind all diese Errungenschaften nicht zufällig entstanden und es war auch nicht einfach, diese zu schaffen. Es ist nicht kompliziert sich auszumalen, wie schwer es ist, ein Frauendorf in einer vom Krieg zerstörten, unter permanenter Bedrohung stehenden, ziemlich konservativen Region aufzubauen. Die Idee, ein solches Dorf aufzubauen, es dann auch zu tun und Frauen dort anzusiedeln, erfordert Mut. Rûmet berichtet, dass heute auch Männer an Diskussionen teilnehmen, um über Wege zur Auflösung der Geschlechterunterdrückung zu finden. „Nicht nur Frauen, auch Männer sind nach Jinwar gekommen, um Perspektiven zur Lösung der Probleme zwischen Männern und Frauen zu bekommen. Es wurde mit religiösen Vertretern, mit Vätern, mit Ehemännern und Brüdern diskutiert, und so zieht die Idee von Jinwar weite Kreise in die Gesellschaft hinein“, so Rûmet.
Wer kommt, will nicht mehr weg
Für das Leben im Dorf ist eine Phase der Anpassung notwendig. Die Frauen, die nach Jinwar kommen, entscheiden, nachdem sie das Leben im Dorf kennengelernt haben, ob sie bleiben wollen oder nicht. Rûmet berichtet: „Für die Frauen und Kinder gibt es eine Integrationsphase von einem Monat. In dieser Phase machen sie unter sich und in der Diskussion mit anderen aus, ob sie bleiben wollen oder nicht. Bisher ist keine wieder weggegangen.“
Frauenräte
Am Ende der Integrationsphase nehmen die Frauen am zweimonatig tagenden Rat des Dorfes teil. Hier wird das Leben im Dorf geplant. Der Rat wählt die Sprecherinnen, die jeden Monat abgelöst werden. Das Sicherheits- und Selbstverteidigungssystem des Dorfes geht ebenfalls aus diesem Rat hervor. Die Arbeit des Rates ist aber nicht auf Sicherheit beschränkt, vor allem wird das System der Kinderbetreuung und der Bildung kontinuierlich verfolgt. Rûmet sagt dazu: „In der Schule erhalten die Kinder Unterricht in Kurdisch und Arabisch. Wenn Frauen anderer Nationalität hierherkommen, können die entsprechenden Sprachen hinzugefügt werden.“
Verschiedene Religionen
Zum Leben im Frauendorf erklärt Rûmet weiter: „Aktuell leben hier Muslimas, Ezidinnen, Christinnen und Alevitinnen, und es gibt kein Problem. Die Vielfalt der Weltanschauungen stellt einen Reichtum und einen Maßstab der Solidarität dar. Wir haben die gemeinsamen Aspekte der Weltanschauungen hier im Dorf sehr deutlich gespürt.“
Die Ökonomie des Teilens
Das Brot des Dorfes Jinwar ist mittlerweile berühmt. Die Brote aus der Bäckerei Aşnan werden auch in den umliegenden Dörfern verteilt. Sie werden aus selbstangebautem Weizen hergestellt. Die Dorfbewohnerinnen teilen die Produkte und benutzen kein Geld. Die Felder werden gemeinsam und kooperativ bearbeitet. Rûmet spricht von sehr positiven Ergebnissen dieser Arbeit. Es wurden zu vielen anderen Dörfern auf Tauschhandel basierende Beziehungen aufgebaut. Rûmet sagt über Jinwar: „Dieses Dorf ist ein heiliges Projekt auf einem heiligen Stück Land.“
Jetzt ist das Dorf akut von der türkischen Invasion bedroht und musste aus Sicherheitsgründen geräumt werden.