Femizide im Istanbuler Gazi-Viertel

In Gazi, einem Istanbuler Viertel mit überwiegend kurdisch-alevitischer Bevölkerung, sind innerhalb weniger Wochen drei Frauen von Männern ermordet worden.

Im Gazi-Viertel in Istanbul, einem Stadtteil mit überwiegend kurdisch-alevitischer Bevölkerung, sind innerhalb der vergangenen drei Wochen drei Frauen von Männern ermordet worden. Pınar Bektaş wurde von ihrem Exmann getötet, Şadumane Temuçin von ihrem Ehemann und Aleyna Dayıoğlu von ihrem Stiefvater.

Bei den Morden wurden handgefertigte und unlizenzierte Waffen verwendet. Im Gazi-Viertel ist seit dem versuchten Militärputsch vom 15. Juli 2016 einer verstärkte Bandenkriminalität zu beobachten. Nach dem Putsch, bei dem es sich um einen internen Machtkampf handelte, nutzte der Staat die Situation zum Vorgehen gegen revolutionäre Strukturen in Gazi und ließ Kriminellen freie Hand. Durch diese Politik verbreiteten sich Drogenhandel und Prostitution und das Tragen von Waffen wurde zum Normalzustand. Inzwischen laufen sogar Zwölfjährige bewaffnet durch das Viertel.

Bewohner:innen des Gazi-Viertels erklärten gegenüber ANF, dass neue Banden entstanden sind und sich einige davon auf den Waffenhandel spezialisiert haben. Den Sicherheitskräften sei der Handel mit handgefertigten Waffen bekannt. Es werde jedoch nichts unternommen, weil dem Staat Kriminelle lieber seien als revolutionäre Jugendliche. Selbst für Kinder sei es kein Problem, für wenig Geld an eine Schusswaffe zu kommen. Die Waffen werden aus frei erhältlichen Rohlingen hergestellt und auf dem Schwarzmarkt verkauft. Sie haben den Vorteil, dass sie billig sind und nirgendwo registriert.

Er ist dein Mann, er schlägt dich halt manchmal“

Pınar Bektaş wurde am 13. November in ihrer Wohnung im Beisein ihrer jüngsten Tochter erschossen. Der Mörder der 42-Jährigen war Tuncay Sağ, von dem sie sich vor einem Jahr getrennt hatte. Ihre Nachbarinnen sagen, dass Sağ nie gearbeitet hat und die gesamte Versorgung der Familie von Pınar Bektaş geleistet wurde. Der Mord sei kein Einzelfall und resultiere aus der staatlichen Politik der Straffreiheit für männliche Gewalttäter. Den Angaben zufolge wurde Pınar Bektaş als Minderjährige verheiratet. In Gazi lebte sie seit elf Jahren. In den 25 Jahren ihrer Ehe erlebte sie permanente physische und psychische Gewalt. Sie verdiente den Lebensunterhalt der Familie und kümmerte sich um die Kinder und den Haushalt. Ihre Eltern und ihre Schwiegereltern wussten von der Gewalt, leisteten jedoch keine Unterstützung. Ihre Tochter Filiz sagt, ihre Mutter habe die Gewalt der Kinder zuliebe ertragen. Sie habe gewartet, dass ihre Kinder erwachsen werden. Als sie endlich zur Trennung bereit war, versuchten ihre Eltern und Schwiegereltern sie umzustimmen. „Er ist dein Mann, er schlägt dich halt manchmal“, lautete die Logik. Filiz erzählt, dass ihre Mutter sich jedoch endlich entschieden hatte.

Annäherungsverbot erwirkt

Die Übergriffe gingen auch in der Trennungsphase weiter. Zuletzt mussten Mutter und Kinder dem Gewalttäter die Familienwohnung überlassen und eine andere Unterkunft finden. „Mein Onkel kam ständig zu uns und beschuldigte mich und meinen Bruder wegen der Scheidung. Er schrie uns an, wir wurden unter Druck gesetzt. Die physische Gewalt dauerte noch einige Zeit an, dann griff er zu verbaler Gewalt. Es kam zu Beschimpfungen und Eifersuchtskrisen. Meine Mutter hatte diese Ehe in ihrem Kopf jedoch beendet. Als Kinder standen wir hinter ihr, und dann wurde die Scheidung vollzogen. Die ersten drei Monate waren schlimm, er verfolgte meine Mutter und uns, er rief meine Mutter an und verfluchte sie. Wir stellten Anzeige und konnten ein Annäherungsverbot erwirken“, berichtete Filiz Bektaş.

Strafminderung für das Motiv „Ehre“?

Nach dem Mord verbreitete die Familie des Täter Gerüchte über Pınar Bektaş. Sie habe sich aufreizend gekleidet und Umgang mit anderen Männern gehabt, wurde erzählt. Offenbar sollte damit eine Strafminderung erreicht werden, im Viertel wurde um Verständnis für den Femizid geworben. Die Kinder von Pınar Bektaş erfuhren jedoch auch viel Unterstützung, vor allem von Frauen aus Gazi. Es wurde Geld gesammelt und Solidarität gezeigt. Der Ortsvorsteher Ümit Doğan ist im täglichen Kontakt mit den Geschwistern und koordiniert die Unterstützung.

Der Mörder Tuncay Sağ gab in seiner ersten Aussage gegenüber der Polizei an, er habe das leichtfertige Verhalten seiner Exfrau nicht mehr ertragen können. Für „Ehrenmorde“ zeigt die türkische Justiz viel Verständnis. Filiz Bektaş hofft, dass ihr Vater verurteilt und nicht gleich am ersten Verhandlungstag wieder freigelassen wird.