Erinnerungen an Rojbîn

Fayik Yağızay ist Vertreter der HDP im Europarat. Er erinnert sich an Fidan Doğan (Rojbîn), die heute vor fünf Jahren zusammen mit Sakine Cansız (Sara) und Leyla Şaylemez (Ronahî) in Paris vom türkischen Geheimdienst ermordet wurde.

Wir vermissen dich, Heval Rojbîn.

Seit Jahren will ich über Rojbîn schreiben, aber ich habe es immer wieder hinausgezögert, weil ich die Sorge hatte, ihr nicht gerecht werden zu können. Diese Befürchtung habe ich immer noch, trotzdem bin ich es ihr schuldig, zumindest einige Erinnerungen an sie zu teilen.

Es war der 10. Januar 2013 um ungefähr 4.00 Uhr morgens. Ich wurde vom Klingeln meines Telefons geweckt und sprang aus dem Bett. Der Anrufer war ein Freund aus Brüssel. Er forderte mich auf, in ein Zimmer zu gehen, in dem sich niemand aufhielt. Dann sagte er, dass im Pariser Informationsbüro Kurdistan ein furchtbarer Mord stattgefunden habe und nannte die Namen unserer drei Freundinnen. Ich sollte zu der in Strasbourg lebenden Familie von Heval Rojbîn fahren und ihnen die Nachricht überbringen, bevor sie es aus den Medien erfuhren. Es war die allerschwierigste Aufgabe, die es geben konnte, aber mir war die Dringlichkeit bewusst und so tat ich es.

Nur eine Woche vorher, am 3. Januar, hatte Rojbîn uns mit ihrer Schwester besucht. Wir unterhielten uns und Rojbîn verfolgte gleichzeitig die Nachrichten auf ihrem Telefon. Plötzlich sprang sie auf und rief freudestrahlend: „Es hat ein Besuch beim Vorsitzenden stattgefunden! Ahmet Türk und Ayla Akad Ata sind nach Imrali gefahren und haben den Vorsitzenden getroffen! Dieses Mal wird es klappen! Es wird zu einer Lösung kommen, es wird Frieden geben und wir werden in unser Land zurückkehren!“

Wie war es möglich, dass nur eine Woche nach dieser Hoffnung spendenden Entwicklung ein solches Grauen stattfand? So war es jedoch. In Zeiten der Hoffnung auf eine Lösung sind Risiken dieser Art besonders hoch. Diese Tatsache traf uns wie ein Schlag ins Gesicht.

Ich kannte alle drei ermordeten Frauen persönlich. Heval Sara kannte ich seit langer Zeit als eine lebende Legende und Symbolfigur des Gefängniswiderstands. Ronahî kannte ich als eine junge revolutionäre Kurdin, die niemals stillhalten konnte. Rojbîn kannte ich jedoch viel besser, weil wir seit 1999 zusammen arbeiteten und ihre Familie in der gleichen Stadt wohnt, in der auch ich lebe. Daher möchte ich vor allem über Rojbîn schreiben.

Ich habe Rojbîn kennengelernt, als ich im Herbst 1999 erstmalig nach Europa kam und einen Freund besuchte, mit dem ich früher zusammen im Gefängnis gewesen war. Rojbîn hatte gerade erst die Schule abgebrochen und sich der Bewegung angeschlossen, nachdem Abdullah Öcalan in die Türkei verschleppt worden war. Sie bat mich, einen Brief an ihre Familie weiterzuleiten.

Kurze Zeit später entschied sie sich, im diplomatischen Bereich zu arbeiten. So kam es dazu, dass wir vor allem in internationalen Einrichtungen zusammenarbeiteten und vieles miteinander teilten.

Es war typisch für Rojbîn, dass sie unbedingt ausführte, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Wurde sie abgewiesen oder ihr eine Tür vor der Nase zugeknallt, fand sie andere Wege, um ihr Ziel zu erreichen. Sie war so zielstrebig und stur, dass ihr Gegenüber sich entweder überzeugen ließ oder aufgab. Und dabei blieb sie liebenswürdig und humorvoll. Sie konnte sich in andere hineinversetzen und eroberte die Menschen auf diese Weise. Selbst ideologisch verknöcherte kurdische Politiker wusste sie zu überzeugen.

Einmal sammelten wir im Europarat Unterschriften für die Freiheit Öcalans. Viele linke, sozialistische und sogar liberale Parlamentarier unterschrieben, aber die Rechten lehnten ohne Zögern ab. Wir saßen in der Cafeteria, als ihr Blick auf einen rechtsradikalen französischen Abgeordneten fiel, der uns gegenüber an einem Tisch saß. „Ich frage ihn, ob er unterzeichnet“, sagte sie. Ich antwortete: „Das kannst du gleich lassen, von denen kriegt man keine Unterschrift.“ Sie lachte und sagte: „Wetten doch?“ Der Mann wollte gerade aufstehen, als Rojbîn sich zu ihm setzte und auf ihn einredete. Nach etwa fünf Minuten drückte sie ihm einen Stift in die Hand und er unterzeichnete. Ich hatte die Wette verloren.

Ein anderes Mal hatten wir um einen Termin beim Generalsekretär des Europarats gebeten. Wir waren zu dritt. Rojbîn konnte kein Englisch, der Generalsekretär kein Französisch. Vor dem Termin sagte Rojbîn zu mir: „Ich habe immer für andere als Dolmetscherin fungiert. Wie wäre es, wenn ich dieses Mal als Sprecherin auftrete und du mir übersetzt?“ Ich stimmte zu und wir betraten den Raum des Generalsekretärs. Ich stellte uns auf Englisch vor, machte eine kurze Einleitung und wollte Rojbîn gerade das Wort überlassen, als sie mir zuflüsterte: „Nein, mach du weiter.“ Als ich sie hinterher nach dem Grund für ihren Rückzug fragte, sagte sie: „Dieser Mann steht an der Spitze einer Einrichtung, die 47 Staaten repräsentiert. Ein einziges falsches Wort könnte uns in Schwierigkeiten bringen. Daher dachte ich, dass du lieber reden solltest, weil du mehr Erfahrung hast.“

Bereits vor ihrem Tod habe ich immer gesagt, dass Rojbîn die Beste von uns in der diplomatischen Arbeit war. Sie war gleichzeitig auch sehr bescheiden und empathiefähig.

Ein anderes Mal hatte Rojbîn einen Termin mit Jean-Claude Frécon vom Europarat vereinbart. Als wir dort eintrafen, sagte seine Sekretärin, Frécon sei beschäftigt und wir sollten noch etwas warten. Nach einer Weile stand Rojbîn auf und entschied, dass wir einfach hineingehen sollten. Wir betraten das Zimmer und trafen den alten Politiker schlafend auf einem Sessel an. Ich wollte mich verlegen zurückziehen, aber Rojbîn rüttelte an seinem Arm und weckte ihn: „Monsieur Frécon, Monsieur Frécon!“ Anschließend ging sie zu seiner Sekretärin und bestellte Kaffee für uns alle. So konnte unser Termin stattfinden.

Erinnerungen dieser Art gibt es viele. Bei den großen Hungerstreiks 2007 und 2012 in Strasbourg spielte sie auf diplomatischem Gebiet eine große Rolle. 2012 wurde nach einer Kirche gesucht, in der der Hungerstreik stattfinden konnte. Die Aktivist*innen gingen mit Rojbîn zur Kirche Saint Maurice. Dort war jedoch niemand. Bevor der Hungerstreik losgehen konnte, musste ein Ansprechpartner der Kirche gefunden werden. Heval Rojbîn fand schließlich die Telefonnummer eines Pfarrers in einem ausliegenden Katalog. Sie rief ihn an, erklärte ihr Anliegen und bat um ein Treffen. Der Pfarrer kam sofort. Rojbîn berichtete ihm von der Situation Abdullah Öcalans und sagte, aus diesem Grund solle ein Hungerstreik in der Kirche durchgeführt werden. Der Pfarrer war verblüfft und wusste nicht, wie er reagieren sollte. Eine solche Situation erlebte er zum ersten Mal. Er war unentschlossen: Auf der einen Seite wird niemand zurückgewiesen, der „in das Haus Gottes“ kommt. Andererseits konnte es auch keine religiöse Unterstützung dafür geben, dass Menschen ihr Leben gefährdeten.

Der Pfarrer erlag jedoch Rojbîns Überzeugungskünsten und erlaubte den Hungerstreik in einem Nebengebäude, das über sanitäre Anlagen und eine Küche verfügte. In der Zeit des Hungerstreiks wurde der Pfarrer geradezu zu einem Botschafter unseres Anliegens. Er verschickte Briefe an alle internationalen Institutionen und erzählte in allen Gottesdiensten von der Lage des kurdischen Volkes. Als der Hungerstreik vorbei war, war aus ihm der „Heval Pfarrer“ geworden.

Diese wenigen Erinnerungen reichen natürlich nicht aus, um Rojbîn zu beschreiben. Sie verweisen jedoch auf ihre diplomatischen Fähigkeiten und ihre Beharrlichkeit.

Liebe Rojbîn! Ich denke voller Achtung an dich und die anderen Freundinnen. Ich verspreche, dass ich meine gesamte Kraft dafür einsetzen werde, euch gerecht zu werden.

Dein Arbeitskollege und Mitkämpfer Fayik YAĞIZAY.