„Er sprach immer über Frauenbefreiung“

Abdullah Öcalan befindet sich seit 19 Jahren in türkischer Isolationshaft auf der Gefängnisinsel Imralı. Seine Rechtsanwältin Asya Ülker berichtet von ihrem ersten Mandantengespräch im Jahr 2001 und schildert ihre persönlichen Eindrücke.

Seit September 2016 gibt es kein Lebenszeichen von Abdullah Öcalan. Sein Rechtsanwaltsteam konnte ihn zuletzt am 27. Juli 2011 besuchen. Dabei war auch Asya Ülker. Die Rechtsanwältin traf Öcalan erstmalig im Jahr 2001 und ist der Auffassung, dass seine Isolation nicht nur Kurdinnen und Kurden, sondern alle Menschen etwas angehe.

Von Öcalan gelernt

Sie habe sich nach der Verschleppung Öcalans in die Türkei am 15. Februar 1999 entschieden, Anwältin zu werden, erzählt Ülker. „Das erste Gespräch ist mir unvergesslich. Es hat mich sehr berührt, Herrn Öcalan im Gefängnis zu sehen. Ich war aufgewühlt, als ob eine mir nahestehende Person verhaftet worden sei. Mit der Zeit habe ich diese Emotionalität überwunden. Ich habe ständig von ihm gelernt und Kraft bekommen. Mein Blickwinkel hat sich geändert.

Respektvoller und freundlicher Empfang

Der Weg zur Gefängnisinsel Imralı und zurück sei oft beschwerlich verlaufen, aber diese Schwierigkeiten seien beim Zusammentreffen mit Öcalan jedes Mal sofort in den Hintergrund getreten, erzählt Asya Ülker weiter. „Er empfing uns stehend und hieß uns willkommen. Er benahm sich immer sehr respektvoll, höflich und freundlich.“

Der erste Besuch

Über ihren ersten Besuch berichtet die Anwältin weiter: „Herr Öcalan fragt beim ersten Kennenlernen immer nach dem Namen, der Herkunft und der zuständigen Anwaltskammer. Ich war so aufgeregt, dass ich mich nicht einmal mehr an meine Antworten erinnere. Ich kannte ihn natürlich aus den Medien, aber eine persönliche Begegnung war völlig anders. Er benahm sich viel warmherziger und respektvoller, als ich erwartet hatte, und begegnete uns sozusagen auf Augenhöhe. Ich war sehr beeindruckt. Schließlich handelte es sich ja auch nicht um irgendeinen Menschen, sondern um jemanden, den die Kurdinnen und Kurden als ihren Anführer betrachten.“

„Er sprach immer über Frauenbefreiung“

Öcalan habe ein gutes Gedächtnis, erinnert sich Ülker. „Wenn eine Frau unter den Verteidiger*innen war, ging er immer auf die Frauenfrage ein. Er konzentrierte sich sehr auf dieses Thema und erläuterte uns seine Frauenbefreiungsideologie. Die Frage nahm er besonders ernst. Meiner Meinung ist die Frauenbefreiung die Grundlage seiner gesamten Ideologie. Er sprach oft über die Geschichte der Frau und kritisierte die Frauen auch. Einmal fragte er mich, ob ich mich in der Frauenfrage auskenne und wie Frauenkleidung, abgesehen von der Kleidung, die das System Frauen aufdränge, meiner Meinung nach aussehen müsste. Diese Frage fand ich sehr interessant.“

Die Entstehungsgeschichte der Jineoloji

Öcalan habe Frauen sichtbar machen wollen, meint Ülker: „Er sprach häufig über eine gleichberechtigte Vertretung bei den Wahlen und über eine Geschlechterquote. Frauen könnten sich nur befreien, wenn sie ein Bewusstsein entwickelten und sich organisierten, sagte er. Daher müssten sie sich in jeder Hinsicht weiter entwickeln und an Stärke gewinnen. Er nannte viele Beispiele. Frauen sollten Sportteams gründen und eine eigene Akademie aufbauen. Die Grundlage der Jineoloji ist bei diesen Gesprächen entstanden. Am wichtigsten war, dass seine eigene Ideologie auf der Frauenbefreiung aufbaute.“

„Manchmal wurde er wütend“

Ülker fährt in ihrer Erzählung fort: „Manchmal wurde er bei den Gesprächen wütend. Dann sah er immer die männlichen Kollegen an. Ich erinnere mich an einige solcher Momente. Ärgerte er sich über etwas, wandte er sich den Männern zu. Mich hat er nie verärgert angesehen. Frauen gegenüber war er respektvoller und achtete auf seine Worte.“

„Liebe war für ihn eine philosophische und ideologische Frage“

Er habe viele Briefe von Frauen aus den Gefängnissen erhalten, teilt Asya Ülker mit. Auf die Fragen, die die Frauen ihm in ihren Briefen stellten, habe er beim Besuch seiner Anwält*innen geantwortet. „Ich vergesse es nie, die Frauen hatten Herrn Öcalan nach seiner Meinung zum Thema Liebe und Frauen-Männer-Beziehungen gefragt. Er antwortete darauf: ‚Meiner Meinung gibt es drei Arten von Liebe: die emotionale Liebe, die fiktive Liebe und als drittes die philosophische und ideologische Liebe.‘ Bei der ersten und zweiten Art handele es sich um eine Liebe, die von Schriftstellern und Künstlern beschrieben werde. Als Beispiel nannte er Nazım Hikmet. Die philosophische und ideologische Liebe entspreche seinem eigenen Verständnis.“

„Die Isolation begann mit der AKP“

Seit 2011 hätten keine Gespräche mehr mit Öcalan stattgefunden, sagt Ülker. „Eigentlich fing die Isolation mit der AKP an. Vor 2011 konnten wir Herrn Öcalan noch von Zeit zu Zeit besuchen.“ Die Isolation sei willkürlich und rechtswidrig, da jeder Untersuchungs- oder Strafgefangene in der Türkei über bestimmte Rechte verfüge: „Dazu gehört natürlich auch das Recht auf Besuch von Verteidigern und Angehörigen. Nichts davon wird umgesetzt. Mit der Isolation soll verhindert werden, dass seine Gedanken nach draußen gelangen.“

Aufhebung der Isolation als Entspannungsfaktor

Mit der Aufhebung der Isolation Öcalans würde sich die Atmosphäre entspannen und der Weg zu einer Demokratisierung öffnen, meint Asya Ülker abschließend: „Wenn sich die Türkei normalisieren soll, muss die Isolation aufgehoben werden.“

MA / Sadiye Eser