Mazlum Abdi: Wenn die Türkei angreift, gibt es einen großen Krieg

Der Generalkommandant der QSD Mazlum Abdi warnt: „Sollte die Türkei angreifen, wird es zu einem großen Krieg kommen.“

Der Journalist Erdal Er hat für die kurdische Tageszeitung Yeni Özgür Politika ein Interview mit Mazlum Abdi, dem Generalkommandanten der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) geführt. Darin äußert sich Abdi unter anderem zu den Drohungen der Türkei, eine Offensive östlich des Euphrat zu starten, und warnt: „Wenn die Türkei wo auch immer angreift, wird es zu einem großen Krieg kommen. Das haben wir allen gesagt. Das weiß die Türkei, das wissen auch die USA und Frankreich.“ Zur Revolution vom 19. Juli erklärt er: „Wir werden diesen Weg weiter schützen, die Aufbauphase abschließen und für eine demokratische Lösung innerhalb ganz Syriens unter der Gleichberechtigung aller Völker arbeiten.“

Wie ist die Lage an der Grenze?

Die Türkei hat an der Grenze eine bedrohliche Menge an Truppen zusammengezogen und Befestigungen errichtet. Aber ich möchte eines sagen, wir haben unsere Truppen ebenfalls zusammengezogen. Es gibt Spannungen. Diese Situation bereitet den Boden für Provokationen. Jeder Fehler, jeder Funke kann einen Flächenbrand auslösen.

Erwarten Sie einen Angriff?

Die Lage östlich des Euphrat ist anders als in Efrîn. Das sind zwei verschiedene Orte. Es ist nicht möglich, das, was in Efrîn geschehen ist, zu wiederholen. Das werden wir nicht zulassen. In Bezug auf Efrîn trafen wir eine strategische Entscheidung. Wir wollten vermeiden, dass sich der Krieg ausweitet. Wir wollten den Krieg um Efrîn auf die Region beschränken und so war es dann auch. Aber so wird es östlich des Euphrat nicht sein. Wenn die Türkei angreift, ganz gleich, wo, wird es zu einem großen Krieg kommen.

Was meinen Sie mit großem Krieg?

Nehmen wir an, die Türkei greift Gîre Spî (Tall Abyad) an. Dann wird die Front von Dêrik bis Minbic reichen. So lautet unsere Entscheidung. Wir haben es allen gesagt, das weiß die Türkei, dass wissen auch die USA und Frankreich. Wenn wir angegriffen werden, resultiert daraus ein 600 Kilometer breites Kriegsgebiet. Das bedeutet den Beginn eines weiteren Syrienkriegs.

Welche Strategie verfolgt die Türkei?

Die türkische Strategie ist es, Girê Spî und Kobanê einzunehmen und zu halten. Aber wenn die Türkei irgendwie angreift, wird der Krieg so lange dauern, bis sie sich zurückzieht.

Was sagen die USA dazu?

Zwischen uns und den USA gibt es eine Allianz, um den Islamischen Staat (IS) zu bekämpfen. Im Moment findet der Krieg in Deir ez-Zor und Raqqa statt. Sollte uns die Türkei angreifen, werden sich die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teil der QSD von dort zurückziehen. Wenn das geschieht, stoppt der Krieg gegen den IS. Der IS wird erneut stärker. Wenn wir uns zurückziehen, rückt das Regime vor, um die Lücke zu füllen. Das würde sich nachteilig auf unsere Zusammenarbeit mit der Koalition und den USA auswirken. Die USA wollen dies nicht. Die Koalition besteht aus 73 Staaten. Niemand will, dass diese Zusammenarbeit Schaden nimmt. Dies ist eine internationale Angelegenheit. Aus diesem Grund wird die Türkei unter Druck gesetzt. In Efrîn gab es so etwas nicht.

Was für einen Druck haben die USA aufgebaut?

Die Rolle der USA bei der Verhinderung eines Krieges ist positiv. Sie arbeiten auf diplomatischer Ebene und bauen Druck auf, sie wollen einen unkontrollierten Krieg verhindern. Das Pentagon, der Generalstab und das Außenministerium haben mit ihren türkischen Amtskollegen gesprochen.

Es gibt aber Menschen, die sagen, man könne den USA nicht trauen …

Das ist keine Frage des Vertrauens, es ist ein Problem der USA. Wir haben unsere Haltung klargemacht und unsere Vorbereitungen getroffen. Wir werden kämpfen. Im Osten des Euphrat wird es anders als in Efrîn.

Sie haben vor einer Weile erklärt, die USA würden zwischen der Türkei und Rojava vermitteln. Geht dieser Prozess weiter, an welchen Punkt befinden sich die Gespräche über eine Pufferzone?

Erdoğan hat 2018 gesagt: „Wir haben unsere Vorbereitungen abgeschlossen und werden eine Operation östlich des Euphrat beginnen.“ In den vergangenen sieben Jahren haben wir kein einziges mal die Türkei angegriffen. Sie haben ein Problem mit unserer Existenz. Schauen Sie, wir befinden uns seit fast sieben Jahren im Krieg. Wir wollen keinen neuen, keinen großen Krieg. Wenn dies geschieht, dann wird es einen großen Krieg geben. Es wird nicht zu einem Waffenstillstand kommen. Deshalb wollten wir von unseren Alliierten, dass sie mit ihnen sprechen. Dass das vom Syrien-Sonderbeauftragten James Jeffrey übernommen wird, war unser Vorschlag. Er sagte, er könne diese Rolle gerne ausüben. So begann der Prozess. Am Anfang war das kein Projekt. Wir haben erklärt, dass es von unserer Seite keinen Angriff geben wird, keine Gefahr besteht. Schließlich ging der Prozess weiter.

Lief es dann auf die „Pufferzone“ hinaus?

Bei einem Telefonat zwischen Erdoğan und Trump kam die Idee einer „Sicherheitszone“ auf. Wir als QSD haben ebenfalls unser Projekt vorbereitet und den USA zukommen lassen. Unser Projekt ist auf jeden Fall annehmbar.

Was will die Türkei, was wollen Sie?

Es geht um die Frage der Grenze. Die Türkei will eine „Sicherheitszone“ von 30 Kilometern. Wir sagen, es sollen fünf Kilometer sein. Wir könnten auch unsere kämpfenden YPG-Einheiten aus einem fünf Kilometer breiten Streifen abziehen. Stattdessen würden dort lokale Kräfte stationiert werden.

Wen meinen Sie mit lokalen Kräften?

Wir meinen die Menschen aus Kobanê, aus Serêkaniyê, aus Qamişlo, aus Girê Spî… Außerdem können wir die schweren Waffen wie Artillerie und Panzer so weit zurückziehen, dass sie die Türkei nicht erreichen. Auch einige unserer schweren Waffen, die 20 Kilometer Reichweite haben, können wir weiter zurückziehen, wenn sie eine Bedrohung darstellen. Die Türkei behauptet, „die von außen kommenden haben die Leitung“. Unsere Antwort darauf lautet: Dann soll die lokale Bevölkerung die Verwaltung übernehmen. So ist das Problem gelöst.

Wurden die Militärräte in Nord- und Ostsyrien aus diesem Grund ausgerufen?

Ja, sie werden nicht zentral gelenkt. Die lokalen Militärräte verwalten sich selbst. Die Ausrufung der Militärräte stellt eine Unterstützung für das Projekt dar.

Was wollen Sie dafür von der Türkei?

Dass sie garantiert, nicht anzugreifen. Dass eine internationale Macht die Überwachung der Pufferzone übernimmt. Also die Koalition oder eine andere Kraft.

Wollen Sie, dass die Türkei Teil der Kraft wird, welche die Sicherheitszone kontrolliert?

Nein, das wollen wir nicht. Die Türkei ist eine Kriegspartei. Wir wollen, dass dies eine unparteiische Kraft übernimmt.

Gut, aber was ist der Inhalt des Projekts der Türkei?

Die Türkei will eine 30 Kilometer  lange„Sicherheitszone“ errichten. Darin will sie auch ihre Banden stationieren, diese Banden, die als FSA getarnt Efrîn besetzt haben … Die Türkei will auch, dass ihre Soldaten das Gebiet patrouillieren. Wir haben das nicht akzeptiert, und es gab viele Debatten darum. Wir als QSD wollen nicht die Kraft sein, die ein solches Abkommen sabotiert. Wir wollen schließlich keinen Krieg mit der Türkei und ziehen daraus auch keinen Vorteil. Wir verteidigen nur uns selbst. Wir wollen keine türkischen Soldaten bei uns. Dafür gibt es keine Grundlage.

Warum gibt es dafür keine Grundlage?

Wenn sie Efrîn nicht besetzt hätten, wenn sie uns nicht angegriffen hätten, wenn sie uns nicht feindlich behandelt hätten, wenn sie kein Veto gegen eine politische Lösung eingelegt hätten, dann hätten wir das vielleicht akzeptiert. Aber sie stehen uns feindlich gegenüber. Allein in Kobanê leben 40.000 Vertriebene aus Efrîn. Als QSD haben wir hunderte Kommandant*innen, die aus Efrîn stammen. Sie akzeptieren nicht, dass ihre Dörfer von der Türkei besetzt wurden. Unter diesen Bedingungen kann es keine Kooperation mit türkischen Soldaten geben.

Unter welchen Bedingungen würden Sie die Präsenz türkischer Soldaten akzeptieren?

Wir haben bedingt zugestimmt, dass türkische Soldaten Teil der Patrouillen sind.

Was bedeutet „bedingt“?

Wir wollen, dass alle Menschen aus Efrîn zurückkehren können. Die Banden sollen aus Efrîn verschwinden. Sie sollen den geraubten Besitz an die Bevölkerung von Efrîn zurückgeben. Sie sollen ihre Siedler mitnehmen. Das alles muss unter der Absicherung der internationalen Mächte und der Kontrolle des Efrîn-Rats geschehen. Wenn dies geschieht, dann können türkische Soldaten als Geste des guten Willens an den Patrouillen teilnehmen.

Ist auch der Rückzug türkischer Truppen aus Efrîn Teil dieser Bedingungen?

Nein, darüber haben wir nicht geredet. Wir haben den Rückzug türkischer Soldaten nicht als Bedingung aufgestellt. Das ist ein späteres Problem.

Was war die Antwort der Türkei?

Ihr Ansprechpartner sind die USA. Soweit ich weiß, gibt es bisher keine Entwicklung. Der Ball liegt im Spielfeld der Türkei, nicht bei uns.

Die Revolution von Rojava geht nun ins achte Jahr. Wie hat die Revolution begonnen, wo waren Sie damals?

Der 19. Juli ist der Tag der Befreiung. Ich nehme diesen Nationalfeiertag zum Anlass und möchte all unseren heldenhaften Gefallenen voller Respekt und Dankbarkeit gedenken. Wir werden die Opferbereitschaft des kurdischen Volkes und seiner Freund*innen nicht vergessen.

Ich war damals wegen eines Treffens in Kobanê. Ich bewegte mich dort konspirativ, die Bedingungen verlangten dies. In Kobanê war das Regime, wir konnten nicht ins Zentrum gehen. Wir waren nur in den Dörfern. Am Abend des 18. Juli ging ich nach Kobanê. Wir haben uns mit den Freund*innen zu einem Planungstreffen versammelt. Damals war die militärische und die politische Kraft eins. Ich war für beides verantwortlich.

Wie war die Stimmung am 18. Juli?

Es gab Unruhen in Damaskus und in Dara. Die FSA rückte vor. Sie waren schon in Dscharablus, standen also kurz vor Kobanê. Die Freund*innen hatten auch den Wunsch, etwas zu tun. Wir sahen, dass sich die Situation schnell verändert. Aus unserer Sicht unterschieden sich Regime und FSA kaum. Wir mussten unseren eigenen Weg wählen. Am 18. Juli war es in Damaskus zu einem Anschlag auf den Krisenstab gekommen. Damaskus war durcheinander und hatte den Überblick verloren. Der Außenminister, der uns zuvor bedroht hatte, war bei der Explosion schwer verletzt worden und befand sich auf der Intensivstation.

Warum hatte er Sie bedroht?

Anfang Juli hatten die Menschen in Kobanê ein, zwei Polizeistationen eingenommen. Der Außenminister drohte: „Wenn ihr etwas in Kobanê macht, kommen die Flugzeuge und werden zuschlagen“ und forderte, dass wir die Polizeistationen verlassen. Es war eine besondere Situation. Die Regimekräfte in Kobanê befanden sich in Panik. Für die Oktoberrevolution gibt es einen Begriff: „Der 16. ist zu früh, der 18. zu spät.“ Für uns war es ebenso. Wir wollten 15 Tage früher aktiv werden, wurden aber mit Bombardements bedroht. Deshalb ließen wir es sein und verließen die besetzten Polizeistationen. Bei unserem Treffen sagte ich zu den Freund*innen, vor 15 Tagen war es zu früh, in 15 Tagen wird es zu spät sein. Wir haben es beschlossen und getan.

War es für Sie eine schwierige Entscheidung?

Es war eine sehr schwere Entscheidung. Die Freund*innen dort fällten die Entscheidung. Da ich auch anwesend war, wurde die Entscheidung sehr schnell getroffen. Mit mir waren auch andere Freund*innen aus der Leitung unterwegs. Wir kippten die Tagesordnung des Treffens und sprachen über die neue Situation.

Hatten Sie zu der Zeit militärische Kräfte in Kobanê?

Wir hatten seit 2011 insgesamt 20 Teams, die klandestin in Kobanê organisiert waren. Auf dem Treffen waren 20 Freund*innen, die jeweils ein Team anführten, bereit. Wir als Leitung blieben im Dorf. Die Freund*innen schlossen die Aufgabe bis zum Morgen ab. Am Morgen erwachte das Volk und sah überall unsere Fahnen von TEV-DEM und der YPG. Die Bevölkerung schloss sich uns an. So kam es zur Revolution.

Wie war Ihr Vorgehen am 19. Juli?

Wir haben am 19. Juli unsere Linie festgelegt. Wir haben in Kobanê alle Soldaten, in Dêrik 200 Soldaten, also insgesamt 5.000 Staatsbedienstete festgenommen. Wir haben ihre Waffen beschlagnahmt, sie in Autos gesetzt und nach Raqqa, das sich damals unter Regimekontrolle befand, geschickt. Der Landrat sagte: „Die Möbel bei mir zu Hause sind mein Eigentum, sie gehören nicht dem Staat. Ohne sie gehe ich nicht.“ Wir legten ihm lachend nahe, dass er seine Möbel vergessen und sich selbst retten soll. Er antwortete darauf: „Nein, ohne meine Möbel gehe ich nicht, ich habe sie von meinem Lohn bezahlt.“ Uns war klar, dass wir so nicht weiterkommen werden. Die Freund*innen haben dann einen Lastwagen besorgt und die Gegenstände des Landrats aufgeladen. Er wurde mit seiner Familie vorne in den Lastwagen gesetzt und gesund und wohlbehalten nach Raqqa geschickt. Das war unsere Methode. Aus diesem Grund gab es unter uns keine Feindschaft. Wir haben niemandem den Kopf abgeschnitten oder von hohen Gebäuden geworfen. Wir haben niemanden umgebracht.

Dann wurden die anderen Regionen eingenommen…

Als die Kräfte des Regimes sahen, dass die Kurd*innen niemanden umbringen, haben sie sich allesamt ergeben. In Efrîn gab es insgesamt 400 Soldaten. Sie ergaben sich alle. Deshalb gab es bei unserer Revolution kein Blutvergießen.

Gab es Auseinandersetzungen zwischen Kurd*innen und Araber*innen?

Nein, so etwas gab es nicht. Der IS und al-Qaida wollten so etwas auslösen. Aber wir ließen uns nicht darauf ein. Deshalb sind wir jetzt in Raqqa und Deir ez-Zor. Sie kennen uns.

Was für Schwierigkeiten gab es während der Revolution?

Die Revolution selbst war nicht sonderlich schwer. Die Probleme begannen danach. Wir hatten schwere Kämpfe. Wir hatten Verluste. Während der Revolution unterstützten uns alle Kurd*innen. Insbesondere die Kurd*innen in Nordkurdistan. Sie unterstützten uns mit ihren Leben und ihrem Besitz. Wenn es sie nicht gegeben hätte, dann hätten wir nicht erfolgreich sein können. Auch Kurd*innen aus Süd- und Ostkurdistan kamen zu uns und kämpften mit uns gemeinsam. Genauso kamen die Internationalist*innen. Natürlich haben wir die richtige Politik verfolgt. Wir haben niemanden zum Feind gemacht. Wir hatten große Schwierigkeiten. Ohne die Zivilist*innen mitzuzählen haben wir 11.000 Gefallene und 24.000 Verletzte zu verzeichnen. Wir sind ihnen allen zu Dank verpflichtet.

Wo gab es die größten Verluste?

Wir hatten in Kobanê 1.500 Gefallene. Es gab ein großes Massaker an der Zivilbevölkerung. Hätten wir in Kobanê jedoch keine Verluste in Kauf genommen, wäre es auch nicht zum Widerstand gekommen. Dann würde es auch keine YPG und QSD geben.

Insbesondere die Kämpferinnen standen immer wieder in der Weltöffentlichkeit …

Die Frauen wurden zum Gesicht unserer Revolution. Sie haben sehr viel erreicht. Auch in der internationalen Koalition in Nord- und Ostsyrien gibt es viele Frauen, sie alle erfüllen jedoch Verwaltungsaufgaben. Unsere größten Kriege wurden von Frauen angeführt. Der Kampf um Kobanê wurde zum Beispiel von einer Genossin kommandiert. Sie lebt immer noch. Der sehr große Kampf um Raqqa wurde von drei Frauen geleitet. Das hat auch die Soldaten, die mit uns zusammenarbeiten, beeinflusst. Wir haben mit unserer Revolution die patriarchale Haltung zerschlagen.

Wie geht es nun weiter?

Wir haben unseren Weg am 19. Juli festgelegt. Wir werden diesen Weg weiter verteidigen, die Aufbauphase abschließen und für eine demokratische Lösung innerhalb ganz Syriens unter der Gleichberechtigung aller Völker arbeiten.