Die Frau, die Erdoğan nicht ansah

Bei der Stimmabgabe des türkischen Präsidenten Erdoğan in Istanbul am vergangenen Sonntag drehte eine Urnenbeauftragte ihr Gesicht weg. Es gab ein großes Medienecho. Hinterher erklärte die Aktivistin der Frauenbewegung ihre Beweggründe.

Als am vergangenen Sonntag die Bürgermeisterwahl in Istanbul wiederholt wurde, ging die Aufnahme einer Frau bei der Stimmabgabe des türkischen Staatschefs Erdoğan durch die Medien. Während alle Urnenbeauftragten lächelnd für die Medien posierten, wendete eine Wahlhelferin ihr Gesicht ab. Das Video wurde etliche Male in den sozialen Medien geteilt. In den regierungsnahen Medien wurde die Frau angeprangert, oppositionelle Kreise drückten ihre Sympathie aus.

Bei der Frau handelt es sich um Rukiye Şimşek, ein Mitglied des Volkshauses im Istanbuler Stadtteil Kadiköy, die seit vielen Jahren in der Frauenbewegung aktiv ist. Der Journalist Ali Ergin Demirhan von der Internetplattform Sendika.org hat mit ihr gesprochen.

„Ich wollte nicht mit einem Menschen zusammen posieren, dessen Weltanschauung sich zu 180 Grad von meiner unterscheidet“, erklärt Rukiye Şimşek ihr Verhalten. Sie selbst war überrascht, welches Echo sie damit hervorgerufen hat. „Dass Erdoğan seine Stimme an der Urne abgibt, für die ich zuständig war, habe ich erst morgens erfahren, als sich alle Urnenbeauftragten an der Tür zum Wahllokal getroffen haben. Es herrschten hohe Sicherheitsvorkehrungen. Außer den normalen Polizisten waren Sicherheitsbeauftragte des Präsidialamtes anwesend. Alle wurden durchsucht, bevor sie hineingelassen wurden“, erzählt sie.

„Ich musste irgendetwas tun“

„Auf einmal war er da. Außer den Urnenbeauftragten mussten alle den Raum verlassen. Erdoğan kam herein und schüttelte dem Vorsitzenden des Wahllokals die Hand. Sein Ausweis lag auf dem Tisch. Ich saß neben dem Vorsitzenden. Meine Aufgabe war es, den Wahlzettel, den Umschlag und den Stempel auszuhändigen. Als ich Erdoğan die Sachen geben wollte, nahm der Vorsitzende sie mir aus der Hand, um sie selbst zu überreichen. Erdoğan gab seine Stimme ab und die Kameras liefen. In diesem Moment wollte ich einfach nicht in die Kamera gucken. Zuerst senkte ich den Kopf, dann drehte ich mein Gesicht weg. Ich wollte in eine andere Richtung schauen. Für mich war es eine große Anspannung, in dieser Situation zu sein. Alle anderen waren aufgeregt, aber ich habe mich sehr unwohl gefühlt. Ich wusste, dass ich irgendetwas tun muss. Große Alternativen hatte ich nicht, deshalb reagierte ich mit Körpersprache.“

Ihre politische Einstellung sei eindeutig, erklärt Rukiye Şimşek und erinnert an die Opfer, die die türkische Regierungspolitik gefordert hat: Die Toten, die Gefangenen, die per Dekret aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen und die ermordeten Frauen in der Türkei. „Gut, dass ich so gehandelt habe“, sagt sie trotz der öffentlichen Anfeindungen.