Anwalt: Willkürliche politische Entscheidung des Gerichts
Die DEM-Politikerin Birsen Orhan ist in Dersim (tr. Tunceli) verhaftet worden. Der abgesetzten Ko-Bürgermeisterin der kurdischen Stadt im Südosten der Türkei werden ein Verstoß gegen das Versammlungs- und Demonstrationsgesetz Nr. 2911 sowie Widerstand gegen die Staatsgewalt vorgeworfen, wie ihr Rechtsanwalt Kenan Çetin mitteilte. Der Jurist kritisierte die Entscheidung des Gerichts als willkürlich und politisch motiviert. „Ich sehe keine faktische und rechtliche Grundlage für den Haftbefehl und werde Widerspruch einlegen“, sagte Çetin.
Birsen Orhan war am Samstagfrüh in ihrer Wohnung im Landkreis Pêrtag (Pertek) festgenommen und zunächst auf das Polizeipräsidium in Dersim gebracht worden, bevor sie an eine Bereitschaftskammer des Gerichts überstellt wurde. Die gegen sie erhobenen Vorwürfe beziehen sich laut ihrem Verteidiger auf Proteste gegen die Ernennung eines Zwangsverwalters im Rathaus der Stadt anstelle des Bürgermeister-Duos der DEM. Vor gut einer Woche hatte das türkische Innenministerium die Amtsentlassung der gewählten Stadtspitze verfügt und den Provinzgouverneur zum Treuhänder für Dersim bestellt. Begründet wurde der Vorgang mit einer Haftstrafe gegen Ko-Bürgermeister Cevdet Konak wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer „Terrororganisation“. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig; Konak befindet sich auf freiem Fuß.
Die HDP-Nachfolgerin DEM war bei der Kommunalwahl im März stärkste Kraft in Dersim, die Ernennungsurkunde zum Bürgermeister erhielt allerdings nur Cevdet Konak. Laut dem DEM-Parteistatus müssen Spitzenämter mit einem Mann und einer Frau besetzt werden – das Prinzip der genderparitätischen Doppelspitze gilt in allen Gremien. Im türkischen Rechtssystem ist der Ko-Vorsitz jedoch nicht verankert. Da es Konak war, der die Bewerbung für eine Kandidatur bei der Kommunalwahl einreichte, wurde nur er als Bürgermeister vereidigt; Orhan gilt offiziell als Stadtverordnete. | Foto: Mit Betonblöcken abgeriegeltes Rathaus in Dersim © MA
Birsen Orhan dagegen war am vergangenen Sonntag schon einmal festgenommen worden und von einem Gericht unter Hausarrest gestellt worden. In dem Fall ging es unter anderem um den Verdacht der Volksverhetzung und Beamtenbeleidigung, ebenfalls im Zusammenhang mit Protesten gegen die Zwangsverwaltung. „Schon die Grundlage für den Hausarrest fehlte“, sagte ihr Anwalt Çetin. Mit ihrer neuerlichen Festnahme und anschließenden Verhaftungen würden die „kafkaesken“ Zustände der türkischen Justiz nun noch deutlicher. „Als Begründung für den Haftbefehl wird herangezogen, dass meine Mandantin an einer nicht genehmigten Demonstration teilgenommen hat. Absurder wird es beim Vorwurf des Widerstands gegen die Staatsgewalt. Diesen habe sie durch einen Tritt gegen eine Absperrung geleistet, die von der Polizei vor dem Rathaus aufgestellt wurde.“ Strafen für Delikte wie diese umfassten jedoch nicht eine Inhaftierung.
Feindseligkeit gegenüber Frauen
„Es gibt diverse Urteile des Verfassungsgerichts, des Kassationsgerichts und auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wonach Freiheitsentzüge aufgrund genannter Vorwürfe rechtswidrig sind“, betonte Çetin. Der kurdische Anwalt warf der Kammer in Dersim vor, sich über Entscheidungen des höchsten Gerichts des Landes hinwegzusetzen und forderte die umgehende Freilassung der Politikerin. Der Kommunalverwaltungsausschuss der DEM-Partei bezeichnete die erneute Festnahme von Birsen Orhan als „Ausdruck der Feindseligkeit und Intoleranz der Regierung gegenüber dem Willen und Widerstand der Frauen“.