Die Ko-Bürgermeisterin von Dersim, Birsen Orhan, ist unter Hausarrest gestellt und mit einem Ausreiseverbot belegt worden. Der kurdischen DEM-Politikerin werden Volksverhetzung und Beamtenbeleidigung vorgeworfen, wie ihr Rechtsbeistand nach der Entscheidung eines Bereitschaftsgerichts am Sonntagabend mitteilte. Zuvor wurde Orhan vorübergehend festgenommen, nachdem sie sich für eine Vernehmung als Beschuldigte auf das Polizeipräsidium begeben hatte. Einem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Erteilung eines Haftbefehls kam das Gericht jedoch nicht nach.
Bei den Vorwürfen gegen Birsen Orhan geht es um Äußerungen der Politikerin gegen die Zwangsverwaltung in Dersim. Am Freitag hatte das türkische Innenministerium die Amtsentlassung der gewählten Stadtspitze verfügt und den Provinzgouverneur zum Treuhänder des Rathauses bestellt. Begründet wird das Vorgehen mit einer noch nicht rechtskräftigen Haftstrafe gegen den Ko-Bürgermeister Cevdet Konak (DEM) wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer „Terrororganisation“.
Birsen Orhan hatte die Zwangsverwaltung bei einer Protestkundgebung als „Besatzung“ und den Gouverneur als „Instrument der Okkupation“ bezeichnet. Das Urteil gegen Konak kritisierte sie als politisch motiviert und Ergebnis einer politisierten Justiz, die der AKP-Regierung von Staatschef Recep Tayyip Erdoğan für dessen Feldzug gegen seine Gegner in die Hände spielen würde. Deshalb ermittelt nun die Staatsanwaltschaft gegen Orhan. Ob und wann Anklage erhoben wird, sei laut ihrer Verteidigung derzeit aber noch unklar.
Die DEM war bei der Kommunalwahl im März stärkste Kraft in Dersim, die Ernennungsurkunde zum Bürgermeister erhielt allerdings nur Cevdet Konak. Laut dem DEM-Parteistatus müssen Spitzenämter mit einem Mann und einer Frau besetzt werden – das Prinzip der genderparitätischen Doppelspitze gilt in allen Gremien. Im türkischen Rechtssystem ist der Ko-Vorsitz jedoch nicht verankert. Da es Konak war, der eine Bewerbung für die Kandidatur bei der Kommunalwahl einreichte, wurde nur er als Bürgermeister vereidigt; Orhan gilt offiziell als Stadtverordnete.
Neben Cevdet Konak – und mit ihm Birsen Orhan – war am Freitag auch der Bürgermeister des CHP-regierten Landkreises Pulur (tr. Ovacık), Mustafa Sarıgül, abgesetzt und durch einen AKP-Beamten ersetzt worden. Sarıgül war im selben Verfahren wie Konak angeklagt und erhielt wie sein Amtskollege mehr als sechs Jahre Haft. Die Urteilsverkündung in dem seit zehn Jahren andauernden Prozess am Mittwoch war unerwartet, den Angeklagten wurde keine Möglichkeit der Verteidigung eingeräumt. Die DEM und CHP werfen Erdoğan vor, das Urteil vorgegeben zu haben.
Sieben Rathäuser unter Zwangsverwaltung
Durch die Absetzungen in Dersim steigt die Zahl der seit Oktober in der Türkei usurpierten Rathäuser auf sieben: Die DEM-Bürgermeister:innen der kurdischen Städte Êlih (Batman), Mêrdîn (Mardin) und Xelfetî (Halfeti) sowie der CHP-Bürgermeister des bevölkerungsreichsten Bezirks von Istanbul waren bereits Anfang November und Ende Oktober ihrer Ämter enthoben worden, ihr Kollege in Colemêrg (Hakkari) bereits im Juni, ebenfalls wegen angeblichem „Terrorismus“.