Das Leben in Nordsyrien wird von Frauen gestaltet

Der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft bringt eine bunte Vielfalt der Kulturen hervor. Menschen diskutieren, wie sie sich organisieren können, welche Probleme bestehen, wie sie diese angehen und welches die geeigneten Lösungen sein können.

Die aktuelle Situation in der Demokratischen Föderation Nordsyrien erstreckt sich über die Erfahrungen und die Begeisterung des Aufbaus eines selbstbestimmten Lebens bis hin zu der praktischen Organisierung der demokratischen Selbstverwaltung. Die politisch angespannte Situation in Syrien selbst und dazu die drohenden Angriffe der Türkei stellen eine reale Drohung für die gesamte Bevölkerung und speziell für Nordsyrien dar. Typisch für Erdoğan ist, dass er den Krieg wieder als Propaganda für die Wahlen in der Türkei und für die Stärkung seiner Macht nutzt. Auf der anderen Seite der Grenze bringt der Aufbau des Lebens der demokratischen Gesellschaft täglich eine bunte Vielfalt der Kulturen hervor. Menschen diskutieren, wie sie sich organisieren können, welche Probleme bestehen, wie sie diese angehen und welches dazu die geeigneten Lösungen sein können. Ideen entstehen, entwickeln sich weiter und gewinnen an Form und Qualität.

Projekte der Frauenstiftung WJAR

Im Rahmen dessen führt die Stiftung der Freien Frau in Rojava/Nordsyrien (WJAR) Projekte zur Unterstützung der Frauenkommunen durch. Die Stiftung ist während der Revolution in Nordsyrien von Frauen vor Ort gegründet worden. Vorschläge von Frauen aus den Kommunen, den Räten für Projekte, werden nach den Bedürfnissen gemeinsam konzeptioniert und umgesetzt. In den Projekten von WJAR gilt es, die sozial tief verankerten Probleme zur Veränderung des Geschlechterverhältnisses, wie die ökonomische Abhängigkeit, den Zugang zu Wissen und Bildung, die Verantwortung um Kindererziehung und Gesundheit sowie die Kenntnis um die Rechte von Frauen anzugehen. Im Rahmen der Projekte findet ein laufender Entwicklungs- und Lernprozess durch Probieren, Diskussion und gemeinsame Weiterbildung statt. In diesem kollektiven Prozess professionalisieren sich die Frauen, im besonderen diejenigen, die bisher keinen Zugang zu Bildung oder Ausbildungen hatten.

Die Gesundheitsarbeiten von WJAR verdeutlichen diesen Wandel: Zunächst ist der Gesundheitssektor auch in Nordsyrien ein Bereich gewesen, in dem wenige Frauen eine Ausbildung hatten. Für alle Gesundheitsthemen waren zu 95 Prozent männliche Ärzte und Apotheker Ansprechpartner. Durch die Fluchtwelle, vor allem 2015, war ihre Anzahl zudem gering, sie waren sehr überlastet und durch die Inflation waren die privatwirtschaftlichen Behandlungsgebühren unbezahlbar geworden.

Dem entgegen werden von WJAR gemeinsam mit den Frauenkommunen von Kongreya Star sowohl Erste-Hilfe-Kurse als auch Seminare zu verschiedenen Gesundheitsthemen durchgeführt. Die Mitarbeiterinnen von WJAR konnten einige Ärzte und Hebammen gewinnen, mit denen diese durchgeführt wurden. Mehrere tausend Teilnehmerinnen in den Städten haben an den Kursen und Seminaren teilgenommen. Durch die Seminare können die kommunalen Gesundheitsmitarbeiterinnen in ihren Kommunen oder Arbeitsbereichen in Fällen von Verletzungen schnell reagieren und bei Krankheiten besser einschätzen, ob das Aufsuchen eines Arztes tatsächlich notwendig ist oder ob sie auch selbst behandeln können. Dieser erste Schritt war wichtig, um ein Teil des Gesundheitswesens zu dezentralisieren und die Ärzte zu entlasten. Auch sind kommunale Gesundheitszentren eingerichtet worden, die in ärmeren Regionen eine Versorgung der Frauen und Kinder ermöglichen, ohne dass sie weitere Wege oder hohe Kosten auf sich nehmen müssen. Einige der Arbeiten werden mit den Gesundheitskomitees organisiert und zum Teil von Heyva Sor, dem Kurdischen Roten Halbmond, unterstützt.

Naturheilkunde gegen Alltagsbeschwerden

Mit der diesjährigen Eröffnung eines Frauenheilzentrums ist ein neuer Schritt erfolgt. Neben den täglichen Behandlungen wird in diesem das Wissen über natürliche Heilmittel konserviert und auch an jüngere Generationen weitergegeben. Die Heilstoffe der teuren und schwer erhältlichen westlichen Medikamente sind auch in lokalen Pflanzen und Wurzeln zu finden. In dem Zentrum stellt eine erfahrene Naturheilkundlerin derzeit vor allem Öle gegen Entzündungen, Krampfadern, Rückenschmerzen, Prostatabeschwerden sowie Tees für Magen- und Darmkrankheiten, Menstruationsbeschwerden, Infektionskrankheiten etc. her. Zudem werden vier junge Frauen in Naturheilkunde ausgebildet. Auch werden Öle und Massagen als Physiotherapie bei Babys und Kindern mit Spitzfüßen, Verdrehungen oder Behinderungen bei der Geburt angewendet. In Rojava wird insgesamt der Aufbau einer nachhaltigen Gesundheitsarbeit diskutiert.

Pädagogik der Freiheit

Die Einrichtung von Kindergärten zielt darauf ab, junge Frauen und Mütter zu entlasten und ihnen die Möglichkeit zu geben, auch an Aktivitäten außerhalb des Haushaltes und Hauses teilzunehmen. Über den Umgang mit Kindern, pädagogische Konzepte, die ideologische Schulung von Kindern im kapitalistischen System und die Frage, wie dazu eine Alternative, eine Pädagogik der Freiheit entwickelt werden kann, findet derzeit eine umfangreiche Diskussion in der Stiftung und in allen Bildungseinrichtungen statt. Sowohl in den Kindergärten als auch in dem Projekt Alan‘s Rainbow für Waisenkinder und Halbwaisenkinder in Kobanê findet eine tägliche Auseinandersetzung über gesellschaftliche Strukturen und Gewohnheiten und deren positive wie negative Einflüsse auf die Kinder statt. Nicht selten leiden die Kindern auch direkt oder indirekt unter den Auswirkungen von gesellschaftlicher und sexistischer Gewalt. Deren Aufarbeitung wie die des Effektes von Kriegen auf die Kinder und die Gesellschaft ist ein andauernder Prozess in diesen Einrichtungen.

Arbeit mit geflüchteten Menschen aus Efrîn

Auch in den Entwicklungen in Şehba unter den Geflüchteten aus Efrîn finden diese Auseinandersetzungen statt. Nach dem Angriff der Türkei auf Efrîn sind ca. 300.000 Menschen aus der Stadt und den umliegenden Dörfern geflüchtet. Dabei mussten sie alles zurücklassen. Sie haben unter Bäumen am Straßenrand, in Kriegsruinen und verlassenen Häusern geschlafen. Hunderte Menschen sind bei ihrer Suche nach einem Unterschlupf durch die vom IS in der Region zurückgelassenen Minen umgekommen oder verletzt worden.

Noch in der Nacht der Flucht haben unter anderem die Organisationen Kongreya Star und die Familien der Gefallenen eine erste Versammlung abgehalten, um zu besprechen, wie sie die geflüchteten Menschen unterstützen können. Es wurde eine Bestandsaufnahme von der Anzahl der Menschen, die in die Region Şehba geflüchtet sind, und ihren Erfahrungen in der Selbstorganisierung gemacht. Innerhalb weniger Tage wurden Komitees für die Organisierung der Frauen, aller Flüchtlinge und der Arbeit der Stadtverwaltung zusammengestellt. Diese Komitees bauten in sechs Monaten die ersten drei Camps mit den Namen Berxwedan (Widerstand), Serdem (Etappe, Zeitraum) und Efrîn auf. Die Camps sind von Anfang an nach den Bedürfnissen und Organisationsstrukturen der Menschen gestaltet worden. Jede Kommune hat eine Küchenzeile und Waschräume. Durch den betonierten Boden sind die Zelte gegen die anstehenden Regengüsse geschützt.

Die Angriffe und die Besatzung der Türkei sind täglich ebenso Thema wie der Wunsch nach Rückkehr. Besonders die ökonomische und gesundheitliche Situation ist schwierig. Die Menschen befinden sich in einem Gebiet, welches eingeschlossen ist von Kräften des syrischen Regimes, den türkischen Besatzern und ihren dschihadistischen Verbündeten. Es gibt kaum landwirtschaftliche oder andere Produktionsmöglichkeiten. Es ist ein herber Rückschritt in der Entwicklung der Gesellschaft, die sich bisher ökonomisch-kommunal selbst organisiert und bestimmt hat. Dies und auch die Unsicherheit in Bezug auf die politischen Entwicklungen sind eine schwere Belastung für die Menschen aus Efrîn. In Erklärungen und auch in Gesprächen fordern sie nach wie vor dazu auf, eine stärkere internationale Resonanz gegen die Besatzung zu organisieren. Ebenso diskutieren die Menschen intensiv darüber, wie sie selbst ihre Situation verbessern können. Zur Unterstützung der Gesundheitsversorgung vor allem der Frauen, die nicht in den Flüchtlingskamps untergebracht sind, werden der Frauenrat und WJAR ein mobiles Gesundheitszentrum einsetzen, dessen Team für die Flüchtlinge in den Dörfern arbeiten wird.

Ein Leben ohne Gewalt und in Freiheit gestalten

Ein weiteres Projekt von WJAR und besonderes Beispiel ist das Frauendorf Jinwar, welches erst kürzlich seine Eröffnung feierte. Frauen erschaffen sich und ihren Kindern ein Zusammenleben, welches sie ausschließlich selbst gestalten.

Im Rahmen von derartigen Projekten versucht WJAR die Revolution der Frauen zu unterstützen und die Politik der Isolation und des Embargos zu durchbrechen. Die Frauen führen Projekte durch, die anregen und neue Perspektiven schaffen.

Der Kampf der Frauen in Nordsyrien macht deutlich, dass ein selbstbestimmtes Leben in den Händen von Menschen liegt und es an ihnen ist, es trotz aller Hürden in seine schönste Form zu bringen: Es geht einfach darum, das Leben ohne Gewalt und in Freiheit zu gestalten.