Brief aus dem Gefängnis: „Es ist Zeit, den Frauenbefreiungskampf zu verstärken“

Die inhaftierte Kandidatin der DEM-Partei für das Amt der Ko-Bürgermeisterin von Ankara, Gültan Kışanak, erklärt in einem Brief: „Jetzt ist es Zeit, dass sich die Frauen organisieren und ihren Kampf ausweiten.“

Die Politikerin der DEM-Partei, Gültan Kışanak, wurde aus der Haft heraus zur Kandidatin für das Amt der Ko-Bürgermeisterin von Ankara gewählt. Die im F-Typ-Hochsicherheitsgefängnis Kandıra inhaftierte Politikerin wandte sich nun in einem Brief an die Frauen. Darin unterstrich Kışanak die Führungsrolle von Frauen im Kampf für Frieden und Freiheit. Um diese Rolle erfolgreich auszufüllen, seien Frauensolidarität und Organisierung unerlässlich.

Gültan Kışanak war vor ihrer Verhaftung im Herbst 2016 Ko-Bürgermeisterin von Amed (tr. Diyarbakir). Die Journalistin und ehemalige Parlamentsabgeordnete wurde 2014 mit 55,1 Prozent der Stimmen als erste Frau zur Oberbürgermeisterin der nordkurdischen Metropole gewählt. Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 war Gültan Kışanak als 19-Jährige festgenommen und zwei Jahre im berüchtigten Kerker von Amed gefoltert worden. Als Bürgermeisterin von Amed ließ sie das Gefängnis, in dem sie einst gefoltert wurde, zu einem Museum umbauen. Sie befindet sich seit 2016 im Gefängnis und wurde zusammen mit weiteren 107 Personen im Zusammenhang mit den Protesten in der Türkei während der Schlacht um Kobanê angeklagt. In dem auf konstruierten Vorwürfen beruhenden politischen Verfahren soll die Politikerin zu langjährigen Haftstrafe verurteilt werden.

In ihrem Brief an die Frauen in der Türkei und Kurdistan nahm die Politikerin insbesondere Bezug auf die bevorstehenden Kommunalwahlen. Sie erklärte: „Liebe Frauen, zunächst möchte ich sagen, wie sehr ich es vermisse, mit euch zusammen zu arbeiten und zu kämpfen. Auch wenn wir in unseren Gefühlen und Gedanken nie getrennt waren, fehlt es mir, mit euch zu sprechen und zu diskutieren, eure Sorgen zu teilen und Seite an Seite auf den Straßen, bei Kundgebungen und im praktischen Kampf mit euch zusammen zu sein. Ich umarme jede einzelne von euch voller Sehnsucht und sende euch meine Grüße und Liebe. Auch alle anderen politischen Gefangenen hier senden euch ihre Grüße und Liebe.

Wahlkampf im Gefängnis

Unsere Vorsitzende Figen1 hat hier [im Gefängnis] ein Wahlpropaganda- und Agitationsteam aufgestellt, das hart arbeitet. Die Begeisterung und Motivation ist sehr groß. Die Frauen hier sagen, wenn wir alle Frauen auffordern, einen Schritt nach vorne zu machen, sollten auch wir hart dafür arbeiten. Um ehrlich zu sein, habe ich nicht erwartet, dass die Kandidatur für Ankara eine solche Leidenschaft auslösen würde. Das bedeutet, dass die Frauen große Energie gesammelt haben. Ich hoffe, dass dieser Aufbruch uns, insbesondere die Frauen, während des Wahlkampfes und vor allem nach der Wahl auf einer erneuerten, starken und gemeinsamen Basis des Kampfes zusammenführt. Ich glaube, dass wir diese Wahlkampfzeit optimal nutzen werden, um die Moral und die Motivation des Frauenbefreiungskampfes zu steigern, unsere gemeinsamen Kampferfahrungen zu offenbaren und neu zu beleben.

„Die Frauenbefreiung steht unter einem Totalangriff“

Liebe Frauen, wir befinden uns in einer Zeit, in der der Kampf für die Befreiung der Frau unter einem Totalangriff steht. Das wisst ihr und erlebt ihr. Auf der einen Seite steht der zunehmende religiöse Fundamentalismus, der radikale Nationalismus, die patriarchale Politik, die sich in einem Machtkampf zwischen zwei Parteien zeigt und der gesamten Gesellschaft den Subjekstatus geraubt und sie von der wahrhaftigen Agenda abgelenkt hat. Auf der anderen Seite steht die kurdische Frage, die durch das Beharren auf dem Krieg zur Unlösbarkeit verurteilt ist und der damit zusammenhängende wachsende Militarismus. Es besteht sogar die Gefahr eines regionalen, vielleicht sogar globalen Krieges... ein prinzipienloser, opportunistischer Politikstil ohne Bereitschaft zum Kampf zieht diese Region in diesen Strudel... Es besteht größter Anlass zur Sorge.

„Wahlkampf ist auch Zeit der Vorbereitung für die Phase danach“

Aber ihr draußen und wir als politische Geiseln drinnen wehren uns. In den Gerichtssälen haben wir gegen diesen Lauf der Dinge so gut wir konnten gekämpft. Wir betrachten diesen Wahlkampf als einen Prozess, in dem wir gemeinsam unseren Widerspruch laut werden lassen, kämpfen und starke Vorbereitungen für die Zeit nach den Wahlen treffen. Ich bin sicher, dass ihr die Risiken und Möglichkeiten des Kampfes draußen besser erkennt. Auf den Versammlungen werdet ihr diese Fragen erörtern, Kritik üben und Vorschläge machen, die zu wichtigen Schlussfolgerungen führen werden. Ich möchte, dass ihr wisst, dass eure Positionen und die Ergebnisse, zu denen ihr kommen werdet, uns Kraft geben werden. Ja, ich vermisse euch, aber ich habe mich nie allein gefühlt. Ihr habt uns politisch-gefangenen Frauen mit eurem Kampf immer Kraft und Moral gegeben. Eure Freundschaft und Frauensolidarität haben die Zellenwände und Eisentore unsichtbar gemacht. Jetzt ist es an der Zeit, die Frauensolidarität, die Frauenorganisation und den Freiheitskampf der Frauen noch weiter zu stärken. Wenn es uns dabei gelingt, neue Brücken zwischen der kurdischen Frauenbewegung und der Frauenbewegung in der Türkei zu bauen und eine Struktur zu schaffen, die den gemeinsamen Kampf entschlossen weiterführt, können wir uns als erfolgreich betrachten. Unser Erfolg muss sich daran messen lassen, inwiefern die Frauenorganisierung, die Frauensolidarität, der Kampf der Frauen wachsen und die Politik des gesellschaftlichen Friedens vorangetrieben wird. Wir, die hier inhaftierten politischen Gefangenen, glauben aufrichtig daran, dass wir erfolgreich sein werden. Wir zweifeln nicht daran, dass ihr euch mit demselben Glauben und derselben Entschlossenheit auf den Weg machen werdet. Möge euch und uns der Weg offen stehen.

Voller Sehnsucht wünschen wir ein weiteres Mal Erfolg. Jin Jiyan Azadî!“

1 Figen Yüksekdag, ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP, befindet sich ebenfalls im Rahmen des Kobanê-Verfahrens in Haft.