Besê Erzincan: Frauen müssen sich selbst regieren

„Als Freiheitsbewegung müssen wir eine Perspektive haben, wie wir uns beim Aufbau des gemeinsamen Lebens von Frauen und Männern in der sozialen Konstruktion verhalten, was wir tun und wie wir leben sollen“, sagt Besê Erzincan (KJK).

Besê Erzincan hat sich als Mitglied der Koordination der KJK (Gemeinschaft der Frauen Kurdistans) beim Frauensender Jin TV in der von Arjîn Baysal moderierten Sendung Xwebûn zu der Notwendigkeit eines frauenzentrierten Gesellschaftsvertrags und der Fähigkeit zur Selbstverteidigung geäußert.

 

Was ist der Gesellschaftsvertrag und warum wurde er auf Ihre Tagesordnung gesetzt?

Der Gesellschaftsvertrag kam 2001 auf unsere Tagesordnung, denn wir sprechen über ein fünftausend Jahre altes, von Männern dominiertes System. In diesen fünftausend Jahren hat sich das System hauptsächlich über Staat und Macht organisiert. Im kapitalistischen System sind alle Staaten nach einem männerdominierten Verständnis aufgebaut. Die Gesellschaft ist nach einem patriarchalen Denken aufgebaut. Bildung, Wirtschaft und Leben sind alle nach dem männlichen Denken und System strukturiert. Wir können die Farbe, die Stimme und das Verständnis von Frauen hier nicht sehen, denn das ist nicht erlaubt. Die erste Gesellschaft wurde jedoch von Frauen aufgebaut. Kann es ein Leben ohne Frauen geben? Sowohl Frauen als auch Männer haben eine Rolle bei der Entstehung der Gesellschaft. Aber die Rolle der Frauen wurde eliminiert und sie wurden auf das Haus beschränkt. Die Staaten haben viele Verfassungen, Gesetze, Philosophien, Religionen und Theorien. Aber all diese Dinge sind für Männer bestimmt.

Alternatives Lebensmodell

Als Freiheitsbewegung müssen wir eine Perspektive haben, wie wir uns beim Aufbau des gemeinsamen Lebens von Frauen und Männern in der sozialen Konstruktion verhalten, was wir tun und wie wir leben sollen. In unserem Gesellschaftsvertrag geht es um die Frage, wie Frauen, Männer, Kinder, alte Menschen und die Natur harmonisch zusammenleben können.

Frauen sind die Schöpferinnen des Lebens. Wir müssen uns in allen Bereichen organisieren, um unsere eigene Existenz zu schützen. Mit dieser Einsicht haben wir 2001 den Gesellschaftsvertrag auf unsere Agenda gesetzt. In den Bergen haben wir ein System und eine Perspektive geschaffen, die in Bakur und Rojava [Nord- und Westkurdistan] ins Leben umgesetzt wurden. Dieser Vertrag, den wir geschaffen haben, bietet die Perspektive, wie eine freie Gesellschaft aufgebaut werden kann.

Gesetze der Nationalstaaten basieren auf Sexismus

Warum können die Gesetze der Nationalstaaten die Probleme der Frauen nicht lösen?

Die Gesetze der Nationalstaaten wurden auf einer sexistischen Grundlage geschaffen. Das hat eine sehr lange Geschichte. In den Gesetzen der Nationalstaaten stehen Frauen immer in der zweiten Reihe, oder sie werden ignoriert. Das ist in jeder Hinsicht so. Schauen wir uns die heutige Situation in der Türkei an: Eine Frau klagt vor Gericht, weil sie von einem Mann Gewalt erlitten hat, aber die Gerichte verteidigen die Männer und nicht die Frauen. Und warum? Weil die Gesetze der Staaten dazu verpflichtet sind, die männliche Macht zu schützen. Das ist für die Aufrechterhaltung des Systems unerlässlich. Egal wie sehr die Frau im Recht ist, es wird nicht anerkannt. Es gibt eine Unterscheidung zwischen den Geschlechtern. Aber diese Unterscheidung entspricht nicht der natürlichen Struktur. Sie beruht auf einem sexistischen Verständnis. Die Gesetze besagen, dass Männer und Frauen den gleichen Lohn erhalten sollten, aber das ist in der Praxis nie der Fall. In einigen Staaten haben Frauen sehr ernsthafte Kämpfe für die Schaffung dieser Gesetze geführt. Aber obwohl es in den Gesetzen steht, unternimmt der Staat, der für die Durchsetzung der Gesetze zuständig ist, nichts, um sie in die Praxis umzusetzen. Viele Gesetze sind nur eine Show. Die Gesetze des Nationalstaates werden ganz im Sinne der Interessen des Staates gestaltet. Soziale Interessen werden nicht berücksichtigt. In den alten Gesellschaften herrschte Moral anstelle von Gesetzen. Die gesellschaftliche Ethik hatte einen wichtigen Platz. Heute ist das moralische Politikverständnis der Gesellschaft abgeschafft und durch Gesetze ersetzt worden. Das hat zu Diskriminierung und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft geführt. Angesichts dieser Situation war es für uns zwingend notwendig, einen Gesellschaftsvertrag für den Aufbau eines freien Lebens zu schaffen. Zu diesem Zweck wurde er geschaffen.

Frauen müssen sich selbst regieren

Der Gesellschaftsvertrag lehnt die Gesetze des Staates vollständig ab. Warum lehnen Sie die Gesetze direkt ab, anstatt sie zu ändern?

Der Staat ist elementar frauenfeindlich. Er ist antidemokratisch. Auch wenn einige Staaten versuchen, diese Tatsache zu verschleiern, indem sie sich als Sozial- und Rechtsstaaten definieren, können sie diese Tatsache nicht verbergen. Im Gesellschaftsvertrag schlagen wir zum Beispiel den demokratischen Konföderalismus als Alternative zum Staatssystem vor. Anstelle von zentralisierten und autoritären Regierungsformen entwickeln wir originelle und autonome Formen der Selbstbestimmung. Alle Glaubensgemeinschaften und gesellschaftlichen Gruppen, Frauen und Jugendliche, sollten über sich selbst bestimmen. Es ist nicht notwendig, dass jemand von außen kommt und sie regiert. Das System, das wir uns vorstellen, ist ein System, das den Staat ablehnt. Aber wir wissen auch, dass der Staat kein System ist, das von heute auf morgen abgeschafft werden kann. Deshalb sollten wir den Staat schrittweise abbauen und ihn überflüssig machen, indem wir unser eigenes System innerhalb des Staates schaffen. Denn der Staat hat eine Tradition von fünftausend Jahren. Es ist nicht möglich, ihn an einem Tag zu beseitigen. Dazu ist es einerseits notwendig, das System zu verändern, indem wir innerhalb des Staates arbeiten. Andererseits müssen wir ein alternatives System entwickeln, damit es Strukturen für die Zeit gibt, wenn der Staat verschwindet. Auch an diesem Thema arbeiten wir. Es ist kein einseitiges Unterfangen, denn wir haben schon oft erlebt, dass der Staat zunächst Rechte zugesteht und sie dann wieder zurücknimmt.

Gesellschaftsvertrag und Istanbul-Konvention

Das haben wir ja auch mit der Istanbul-Konvention erlebt. Was können Sie dazu sagen?

Die Istanbul-Konvention ist wichtig für Frauen. Wir haben gesehen, dass sie zurückgenommen werden kann, wenn man es will. Ziel der Istanbul-Konvention war es, Gewalt gegen Frauen zu verhindern. Aus diesem Grund kämpfen Frauen dafür, dass diese Konvention nicht abgeschafft wird. Das ist richtig, und dieser Kampf sollte weitergehen. Aber wir sprechen über etwas anderes. Es geht um ein neues und freies Leben in jeder Hinsicht. Der Gesellschaftsvertrag steht weit über der Istanbul-Konvention. Wenn der Gesellschaftsvertrag in allen Bereichen verwirklicht ist, wird es keine Gewalt gegen Frauen, kein Unrecht und keine Ungerechtigkeit mehr geben.

Meinungen aus allen Teilen der Gesellschaft eingeholt

Sie sagen, dass dieser Vertrag ein demokratischer Gesellschaftsvertrag ist. Wie werden alle Teile der Gesellschaft, Frauen, Kinder und ältere Menschen, an dieser Übereinkunft teilhaben?

Wir haben ihn erstmals 2001 als Entwurf ausgearbeitet. Später wurden Studien dazu durchgeführt. Die Vorschläge von Frauenräten und die Meinungen von Frauenbewegungen in der ganzen Welt, von jungen Menschen und verschiedenen Teilen der Gesellschaft wurden berücksichtigt. Auf diese Weise wurde der Gesellschaftsvertrag vorbereitet, als er zum ersten Mal ausgearbeitet wurde. Jetzt sehen wir es in Rojava. Auch dort wird ein Gesellschaftsvertrag ausgearbeitet. Es werden Meinungen aus allen Teilen der Gesellschaft eingeholt, es werden Treffen organisiert, es wird seit Jahren diskutiert und als Ergebnis wird versucht, eine Entscheidung zu treffen. Der Vertrag muss demokratisch vorbereitet werden, damit sich alle darin wiederfinden können.

Nach welchen Grundsätzen schließen Frauen einen Gesellschaftsvertrag ab?

Frauen sind seit jeher die Vorreiterinnen einer demokratischen Gesellschaft. Mit diesem Vertrag bestimmen wir Frauen, in welcher Art von Gesellschaft wir leben wollen. Wir schließen einen Gesellschaftsvertrag nach dem Paradigma von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] für eine demokratische, ökologische und frauenbewegte Gesellschaft. Der Vertrag basiert auf diese drei Grundprinzipien.

Leben in freier Partnerschaft

Einer der wichtigsten Punkte des Gesellschaftsvertrags ist das Leben in freier Partnerschaft. Wenn wir eine freie Zukunft wollen, müssen freie Beziehungen geschaffen werden. Heute muss sich vor allem die Mentalität ändern. Ein neues Leben kann nicht mit den bestehenden rückständigen, traditionellen Denkweisen aufgebaut werden. Frauen haben in dieser Hinsicht sehr ernste Probleme. Diese Probleme sind jedoch nicht nur die Probleme von Frauen, sondern betreffen die gesamte Gesellschaft. Zum Beispiel gibt es in Rojava Frauenorganisationen. Diese Einrichtungen kümmern sich um die Probleme von Frauen und lösen sie. Der Gesellschaftsvertrag ist auch hier wirksam. Die Gesellschaft wird über diese Themen aufgeklärt und sensibilisiert. Zum Beispiel das Recht der Frauen auf Bildung und wirtschaftliche Freiheit und die Ablehnung von Kinderehen usw. Den Frauen werden Rechte zugestanden. Mit diesem Gesellschaftsvertrag werden Frauen zu Subjekten in allen Lebensbereichen. Frauen und Männer sind die beiden wesentlichsten Elemente der Gesellschaft. Aber in der gegenwärtigen Situation werden die Frauen ignoriert. Das monolithische System, d.h. die Männlichkeit, wird als Grundlage genommen. Wir versuchen, dieses einseitige System zu ändern und ein gemeinsames Leben zu schaffen.

Wie wird der Gesellschaftsvertrag umgesetzt?

Wie soll der Gesellschaftsvertrag in allen Lebensbereichen umgesetzt werden, zum Beispiel in der Wirtschaft, der Gesundheit, der Bildung usw.?

Ein konkretes Beispiel dafür kann man heute in Rojava sehen. Im Gesundheitswesen, in der Wirtschaft, im Bildungswesen und in anderen Bereichen wird der Gesellschaftsvertrag langsam mit Leben erfüllt. Damit die Dimensionen der demokratischen Nation lebendig werden, müssen Frauen die Führung übernehmen. Alle Dimensionen betreffen Frauen direkt. Frauen müssen dies zunächst in ihren eigenen Bereichen umsetzen und entwickeln, damit es sich in allen Bereichen widerspiegeln kann. Die Frau hat einen demokratischen Charakter. Daher fällt es ihr nicht schwer, bei der Demokratisierung der Gesellschaft die Führung zu übernehmen. Natürlich kommt es hier, wie bei jeder Arbeit, darauf an, die Perspektive richtig zu bestimmen. Nur ein Kampf, der mit einer richtig bestimmten Perspektive geführt wird, kann fruchtbar sein. Damit der Gesellschaftsvertrag zu Ergebnissen führt, müssen in erster Linie Frauen die Führung in dieser Frage übernehmen und eine aktive Rolle im Kampf um die Veränderung der gesellschaftlichen Mentalität spielen. Vor allem der Bereich der Bildung muss von den Frauen in Angriff genommen werden. Bildung ist eine sehr wichtige Dimension. Soziale Bildung führt zu sozialem Wandel. Mit der von Frauen vermittelten Bildung lässt sich der Aufbau der Gesellschaft leichter bewerkstelligen.

Eine weitere wichtige Dimension für Frauen ist heute die Wirtschaft. Die Ökonomie ist den Frauen aus der Hand genommen worden und muss zu ihrem wahren Wesen zurückfinden. Heute wird Wirtschaft mit Männern identifiziert. Ein richtiges Verständnis und die Entwicklung der Wirtschaft kann nur durch die Intervention von Frauen in diesem Bereich erreicht werden. Männer entwickeln Projekte im Sinne des kapitalistischen Systems. Das schadet der Natur und der Gesellschaft in jeder Hinsicht. Die Wirtschaft, die die Frauen entwickeln werden, wird jedoch gemeinschaftlich und ökologisch sein und auf sozialem Nutzen beruhen. Eine Wirtschaft, die der Natur schadet und nicht sozial ist, führt nicht weiter, als dass sie das Rad des kapitalistischen Systems dreht. Die von den Frauen zu entwickelnde Wirtschaft muss eine Ökonomie der Bedürfnisse sein. Die Produktivität muss auf der Grundlage der Bedürfnisse und nicht des Konsums bestimmt werden.

Ist Rojava ein ideales Modell für die Entwicklung all dieser Dimensionen?

Ja, das ist es tatsächlich. Rojava ist in dieser Hinsicht ein sehr wichtiges und ideales Beispiel. Das in Rojava entwickelte System ist in vielerlei Hinsicht vorbildlich. Frauen übernehmen dort wichtige Aufgaben, beispielsweise den Bereichen Gesundheit, Bildung, Verteidigung und Wirtschaft. Der Wandel, der mit der Beteiligung von Frauen einhergeht, betrifft alle Bereiche der Gesellschaft. Rojava ist das konkreteste und schönste Beispiel dafür.

Selbstverteidigung ist lebenswichtig

Wie kann der Gesellschaftsvertrag entwickelt und geschützt werden? Welche Bedeutung hat dabei die Selbstverteidigung?

Da wir außerhalb des Staates leben, wird es immer Angriffe auf uns geben. Der Staat sagt: Lebt nach meinen Vorstellungen, dann mische ich mich nicht in eure Angelegenheiten ein. Aber wir sind in Rebellion gegen dieses Staatssystem. Deshalb sieht der Staat uns als eine große Gefahr für sein System. Aus diesem Grund befindet er sich in einem ständigen Angriffs- und Vernichtungskonzept. Daher ist es notwendig zu wissen, wie man das System, das man selbständig aufbauen will, bis zum Ende schützen kann. Das gilt insbesondere für Frauen, denn der Angriff richtet sich im Wesentlichen gegen uns. Das System, das aufgebaut wird und aufgebaut werden soll, ist ein auf freien Frauen basierendes System. Deshalb wird es vom männlich-staatlichen System angegriffen. Das müssen die Frauen begreifen, indem sie sich die Geschichte anschauen. Denn wenn Frauen sich nicht wehren können, werden sie zu Sklavinnen und Gefangenen des Mannes, des Staates und des Systems. Das ist in der Geschichte bis heute der Fall gewesen. Bei der Gründung der YPJ in Rojava ging es nicht nur darum, das Land aus einem Gefühl des Patriotismus heraus zu schützen. Die YPJ existieren, um alle Werte des eigenen Systems zu verteidigen. Und das ist auch das Richtige. Wenn wir uns die Revolutionen in der Welt anschauen, dann sehen wir, dass die Frauen nach der Revolution wieder zu Hause eingesperrt wurden. Als kurdische Frauen können wir sagen, dass wir aus dieser historischen Realität große Lehren gezogen haben.

Wenn Frauen geeint und organisiert sind, haben sie die Kraft und den Ansatz, sich gegen alle Arten von Angriffen zu wehren. Sie mischen sich in das Unrecht ein und verteidigen sich und ihre Gesellschaft. Aus diesem Grund ist die Dimension der Selbstverteidigung für Frauen von entscheidender Bedeutung.