Am Montagabend hörten die Besucherinnen des monatlichen Cafés der Kampagne „Gemeinsam Kämpfen“ in Hamburg einen Reisebericht der feministischen Delegation 2018/2019 nach Nordostsyrien. „Wir wollten die Revolution kennenlernen und verstehen, einen Zugang zu Rojava aus feministischer Perspektive finden“, beschrieben die beiden Referentinnen, die von der Delegationsgruppe mit am längsten im Land verbrachten, ihre Intention.
Einen kleinen Ausschnitt des durch zahlreiche Gespräche und Interviews gewonnenen Eindrucks gab das Video „Azadî çi ye?" (Was ist Freiheit?) „Freiheit ist die schönste Sache auf der Welt … Freiheit ist die Freiheit des Geistes, die Freiheit des Seins … Freiheit kommt nicht durch Kleidung, mit schlechtem Verhalten, schlechten Dingen. Freiheit kommt mit dem Geist, Menschen müssen ihre Gedanken befreien.“
Um die Revolution verstehen zu können, sei es wichtig, einen Blick auf die Geschichte der Region zu werfen. Das Gebiet des im 1. Weltkrieg auf der Seite Deutschlands kämpfenden Osmanischen Reiches wurde von den Siegermächten aufgeteilt, Nationalstaaten wurden aufgebaut, Grenzen willkürlich gezogen. Seit jeher gab es in dieser nationalstaatlichen Logik keinen Platz für die kurdische Identität. Die Wurzeln des Widerstands fußen in der Parole „Kurdistan ist eine Kolonie“. In jahrelanger Vorarbeit durch den Aufbau widerständiger Strukturen und den engen Austausch mit der Bevölkerung konnte das im syrischen Bürgerkrieg 2011 entstehende Machtvakuum genutzt werden, um in einer unblutigen Revolution die Verwaltung des eigenen Lebens selbst in die Hand zu nehmen. Das bis dahin nur theoretisch erdachte Konzept des Demokratischen Konföderalismus wurde in die Tat umgesetzt.
Dieses Konzept verweigert aufgrund der Geschichte und all ihrer Konsequenzen Nationalstaatlichkeit und den damit zwingend einhergehenden Nationalismus als Werkzeug von Unterdrückung und ist vielmehr eine Selbstverwaltung aller Identitäten. Alle Ethnien und Religionen sollen Platz finden. Daher sei es wichtig, die Revolution in ihrem Wachsen zu begreifen und nicht auf die kurdische Identität zu verkürzen.
Weitere Grundlage der Revolution ist die Frauenbefreiung, die sich formal ausdrückt in Dingen wie dem Frauenwahlrecht, gleichen Bildungsmöglichkeiten, dem System des Ko-Vorsitzes und der autonomen Frauenorganisierung auf allen Ebenen. So werden etwa Fälle von Gewalt gegen Frauen ausschließlich von Frauen verhandelt und betreut. Doch die Revolution geschieht auch außerhalb dieser formalen Grenzen, wie eine Freundin im Video „Azadî çi ye?“ sagt: Im Geist, in den Gedanken. „Es gibt nicht den einen Moment der Revolution, ah, das war sie jetzt! Es gibt viele kleine Revolutionen, jeden Tag“, so eine der Vortragenden.
Uralte, verinnerlichte Denk- und Handlungsmuster werden infrage gestellt und es wird daran gearbeitet, sie zu überwinden. Auch im Bezug zur Natur – denn dies ist die dritte Säule der Revolution. Beim ökologischen Paradigma geht es um den Umgang aller Menschen untereinander und mit allem Lebenden. Wie lässt sich der Bezug zur Natur, ohne die Leben nicht möglich ist, verändern – zurück zu einem gesunden Miteinander? Diese Auseinandersetzung zeigt sich aktiv im Versuch der Wiederaufforstung, quasi einer pflanzlichen „Reanimation“. Massiv erschwert werden diese Bemühungen durch das bestehende Embargo und das Nutzen ökologischer Gegebenheiten als Kriegswaffe. 80 Prozent der Flüsse, die durch das Gebiet fließen, entspringen in der Türkei. Für das türkische Regime es so ein leichtes ist, die Wasserversorgung zu kappen, wodurch auch das ökologische Gleichgewicht zerstört wird.
Die Referentinnen erzählten von ihren Besuchen in Raqqa, wo durch den Sieg über den IS wieder bunte Kleidung in den Straßen gesehen werden kann, wo Frauen den unbedingten Willen haben, sich nie wieder einer derartigen patriarchalen Gewalt zu unterwerfen, sich zahlreiche Frauenräte entwickelt haben. Wo Frauen sich unter dem IS als Männer verkleideten, um ihren Käseladen weiterführen zu können, nachdem die Männer der Familie ins Gefängnis geworfen worden waren. Sie erzählten von Kobanê, 2014 massiv vom IS angegriffen und zerstört, wo ein Stadtviertel als Widerstands-Museum nicht wieder aufgebaut wurde, wo ein Jineolojî-Büro eröffnet wurde, um der Herrschaftsperspektive in der Geschichtsschreibung etwas entgegenzusetzen. Sie erzählten von Jinwar, dem Frauendorf, das nach langem Austausch mit der Bevölkerung als kompletter Neuaufbau für Frauen und Kinder eröffnet wurde. Ein Ort, der komplette Selbstständigkeit im Handeln und Denken zum Ziel hat, der viel Freiheit gibt „einfach zu sein“, an dem aber auch der Kampf mit sich selbst immer wieder im Mittelpunkt steht, Dinge anzugreifen, selbst zu machen, zu sagen „Ja, ich kann das.“ Und sie erzählten vom Andrea-Wolf-Institut, dem Ort für Frauen, Lesben, Trans-Personen, Inter-Personen und nicht binäre Personen aus aller Welt, die hier zusammenkommen, um zu lernen und sich Fragen zu stellen wie: Was bedeutet Internationalismus? Was bedeutet weiß sein, wo finden sich rassistische Züge in mir selbst?
Denn dies war eine entscheidende Botschaft an die Teilnehmerinnen der Delegation und weit über sie hinaus: Notwendig ist es, offen und ehrlich zu reden, sich selbst zu kritisieren und Kritik zuzulassen. Das System, in dem wir leben, wird in uns hineingeschrieben – wenn wir es überwinden wollen, müssen wir dies akzeptieren und uns kritisch betrachten.
Dass es sich bei alldem um einen Prozess handelt, war den Referentinnen besonders wichtig zu betonen. Überall herrscht Aufbau in Nord- und Ostsyrien, sichtbar und unsichtbar. Nichts ist perfekt, aber dies ist nicht der Anspruch, den Widersprüchen wird sich kritisch gestellt. Dieser Aufbau, hin zu einer befreiten Gesellschaft, muss trotz und besonders wegen der aktuellen Situation, die das Erreichte zerstören will, verteidigt und weiter vorangetrieben werden. Sei es das Erdoğan-Regime mit seinem brutalen Krieg gegen die Demokratische Konföderation Nord- und Ostsyrien, die Klüngelei der nationalstaatlichen Weltgemeinschaft, das Erstarken des Faschismus weltweit oder die in uns steckenden Denkmuster. Immer gilt: „Berxwedan Jîyane, Widerstand heißt Leben.“