2020 steht unter dem Stern politischer Bildung
Am Wochenende hat eine internationalistische Kurdistan-Tagung in Darmstadt stattgefunden. Zwei Tage lang wurde über die politische Lage, das vergangene Jahr und die laufende Arbeit diskutiert.
Am Wochenende hat eine internationalistische Kurdistan-Tagung in Darmstadt stattgefunden. Zwei Tage lang wurde über die politische Lage, das vergangene Jahr und die laufende Arbeit diskutiert.
Am vergangenen Wochenende, vom 17.-19. Januar 2020, fand in Darmstadt die zweite internationalistische Kurdistan-Tagung unter dem Titel „Eine Welt – ein Kampf“ statt. Cenî (Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V.) und Civaka Azad (Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.) hatten verschiedene Gruppen, Organisationen und Initiativen, die in der Kurdistan-Solidarität aktiv sind, zur gemeinsamen Auswertung und Planung der weiteren Arbeit eingeladen.
Die feministische Perspektive
Zum Auftakt der Tagung diskutierten die Frauen autonom ihre Arbeiten und einigten sich auf Planungen für das kommende Jahr sowie auf gemeinsame Projekte und Leitlinien. Das Frauenbüro Cenî, die Stiftung der freien Frauen Rojava (WJAR), der Dachorganisation Kongreya Star, die Studierenden Frauen aus Kurdistan (JXK), das Jineolojî-Komitee, die Kampagne Women Defend Rojava sowie die feministische Kampagne „Gemeinsam kämpfen! Für Selbstbestimmung und demokratische Autonomie“ stellten sich vor. Wie später auch auf der gesamten Tagung wurde das Thema politische Bildung intensiv besprochen und für 2020 eine „Bildungsoffensive“ ausgerufen.
Die feministische und Frauenbewegung hat die Kraft, in die gesamte Gesellschaft zu wirken und Veränderungen herbei zu führen. Durch Bildungsarbeit soll die gemeinsame feministische Perspektive auf die Themen, die die Menschheit bewegen, diskutiert werden und in breiten Kreisen zur Blüte kommen. In der Auswertung wurde die Bedeutung der autonomen feministischen Organisierung stark hervorgehoben und diskutiert, wie diese gestärkt und weitergeführt werden kann. In diesem Zusammenhang wurde betont, dass nur durch die in der autonomen Organisierung gewonnene Stärke und Selbstbestimmung ein kraftvolles Einbringen und der Erfolg der gemeinsamen Arbeiten aller Geschlechter entstehen können.
Aus feministischer Perspektive wurde analysiert, dass in der Art und Weise der Zusammenarbeit und in der eigenen Haltung Kapitalismus, Staat und Patriarchat nicht reproduziert werden dürfen. Die Arbeitsweisen müssen kollektiv und freundschaftlich gestaltet sein und sich an dem gegenseitigen Respekt sowie an dem Respekt vor den Unterschiedlichkeiten ausrichten. Dies wurde aus dem Frauentreffen am folgenden Tag auch als Kritik in die gemeinsame Tagung eingebracht.
Weiterhin wurde beschlossen, dass es noch in diesem Jahr eine autonome internationalistische Kurdistan-Tagung für Frauen geben wird. Dafür wurde eine Vorbereitungsgruppe gewählt. Auch der 8. März soll gemeinsam im Geiste des feministischen Internationalismus begangen werden, wobei die Verknüpfungen zwischen Patriarchat und Faschismus im Fokus stehen, die FrauenLesbenInterNonbinariesTrans* (FLINT*) weltweit bewegen und vielfach durch Gewalt bis hin zu Feminiziden auf grausamste Art sichtbar werden. In diesem Zusammenhang wird vorgeschlagen, dass in den verschiedenen Städten und Regionen zum 8. März öffentliche Plätze geschaffen werden, die zukünftig zu einem festen Treffpunkt des FLINT*-Protests werden, um sich unmittelbar nach dem Bekanntwerden von Feminiziden lokal zusammen zu finden.
Politische Lagebewertung
Zum Auftakt der gemeinsamen Tagung mit allen Geschlechtern gab es einen Vortrag und eine breite Diskussion zur politischen Lagebewertung, zum Jahresrückblick und den Perspektiven für das kommende Jahr. Vielfach hervorgehoben wurden der massenhafte Hungerstreik, der von Leyla Güven angeführt wurde und den Beginn des Jahres 2019 kennzeichnete. Parallel zum Faschismus in der Türkei und der Totalisolation Abdullah Öcalans wurde ein besonders starker Widerstand geleistet und das Aufeinanderprallen der Systeme der kapitalistischen und der demokratischen Moderne trat unmaskiert zum Vorschein. Das Durchbrechen der Totalisolation durch anwaltliche und familiäre Besuche ist ein großer Erfolg der Kämpfe des vergangenen Jahres. Der verstärkte Widerstand hat Errungenschaften erreicht, in dem sich der Raum für den Widerstand und Aufbau erfolgreich genommen wurde. In diesem Sinne sind auch die Kommunalwahlergebnisse der HDP einzuordnen und der Mut sowie das Selbstbewusstsein der verschiedenen politischen Akteur*innen, ihre demokratischen Pläne für die kommenden Jahre, trotz der hohen Repression, in der Öffentlichkeit zu präsentieren und zu vertreten.
Krieg in allen Teilen Kurdistans
Durch die massive Verschärfung des Krieges mit dem Überfall des türkischen Militärs auf Nord- und Ostsyrien ab dem 9. Oktober 2019 kam es weltweit zu einem großen Aufschrei fortschrittlicher Kräfte und einer intensiven Welle von Solidaritätsaktionen verschiedenen Charakters. In allen vier Teilen Kurdistans führt das faschistische Erdogan-AKP-Regime Krieg. Die Situation im gesamten Mittleren Osten wurde als offene Austragung des Dritten Weltkrieges benannt und in diesem Bezug wurde auch die Zunahme der Repression mit Verhaftungen, Verboten, politischen Prozessen und Verfolgung in der Bundesrepublik bewertet.
Als Resultat der Intensivierung und des internationalen Zusammenschlusses derjenigen Kräfte, die nach Freiheit und Frieden suchen und ihre Alternativen aufbauen und verteidigen, intensivieren die Herrschenden ihren Krieg gegen die Demokratie. In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung von Niederlagen und Gewinnen nicht immer einfach zu treffen und erfordert ein hohes kritisches Bewusstsein und selbstkritische Auseinandersetzung.
Die Bevölkerung der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien erkämpfte sich selbstständig und unabhängig ein Gesellschaftssystem auf der Basis der drei Säulen Frauenbefreiung, Ökologie und Basisdemokratie. Hierdurch geraten die imperialistischen Mächte in Erklärungsnöte, da sie nicht für sich beanspruchen können, vermeintlich „rückständigen Völkern“ zu Demokratie und Menschenrechten zu verhelfen. Dieses Problem beantworten sie mit einem verstärkten Kampf auf militärischer sowie psychologischer Ebene.
Praxis und Selbstkritik
Anschließend wurden neben den vielfältigen Organisationen der Frauenbewegung auch die Arbeiten von Civaka Azad, der Nachrichtenagentur ANF, der Kampagnen Riseup4Rojava und Make Rojava Green Again, der Rechtshilfegruppe Azadî, der Internationalen Initiative Freiheit für Öcalan – Frieden in Kurdistan und der Städtefreundschaften Kobanê-Frankfurt und Efrîn-Oldenburg vorgestellt. Ausgehend von der, hier sehr kurz zusammengefassten, Analyse konnten die gemeinsamen Kämpfe, Projekte und Initiativen angemessen reflektiert und ausgewertet werden.
Mahmut Şakar, der in den ersten Jahren nach der Verhaftung einer der Anwälte Abdullah Öcalans war, sagte hierzu: „Der gemeinsame internationale Kampf und die revolutionäre Identität, der revolutionäre Geist haben eine sehr wichtige Bedeutung. Die Isolation soll Abdullah Öcalan zum Schweigen bringen, dafür sorgen, dass er nicht sprechen kann. Wenn wir seine Ideen verbreiten und leben, durchbrechen wir die Isolation. Auf dieser Grundlage müssen wir uns selbstkritisch fragen, wo Theorie und Praxis auseinandergehen. Wir befinden uns in einer Krise, aber die größte Krise war 1999. Mit der internen Reflexion und dem von Abdullah Öcalan angestoßenen Paradigmenwechsel haben wir diese Krise gemeistert und genauso werden wir es jetzt schaffen. Für die jetzige Krise sind wir viel besser ausgestattet und vorbereitet und haben ein Bewusstsein dafür, mit wem und wofür wir kämpfen. Daher können und müssen wir uns nun fragen, warum schaffen wir in der Praxis nicht mehr?“
Unterschiedlichkeiten bewahren und Kräfte bündeln
Öffentliche Protest- und Solidaritäts-Aktionen fanden im vergangenen Jahr in sehr vielfältiger Weise statt und hatten eine hohe Frequenz. Dies entsprach der politischen Lage und ist aus dieser Perspektive als richtig zu bewerten und die Vielfalt der Aktivitäten soll beibehalten und sogar erweitert werden. Es wurde kritisiert, dass die Kommunikation und Koordination auf lokaler Ebene sowie zwischen lokaler und bundesweiter Planung teils stark verbessert werden muss, dies habe sich besonders zu Beginn des neuesten Angriffs auf Rojava gezeigt. Die Frage, wie Vielfalt organisiert werden kann, wurde diskutiert und Überlegungen angestellt, wie Unterschiede bewahrt und dennoch Kräfte gebündelt werden können.
Gleichzeitig wurde analysiert, dass parallel zu den Aktionen die ideologische und emotionale Stärke mehr im Mittelpunkt stehen muss. Aktionismus enthalte die Gefahr der instrumentalisierenden Zusammenarbeit, weshalb eine ständige Auseinandersetzung einer jeden Person mit dem selbst verinnerlichten Patriarchat, mit der eigenen Persönlichkeit notwendig ist. Für die kollektive Organisierung müssen alle an sich selbst arbeiten und das Patriarchat in sich reflektieren, dies brachten insbesondere die FLINT* in die Auswertung ein. Mentale und physische Räume des kollektiven Lebens, der Rückbesinnung, Konzentration und für Empowerment sind notwendig, um an einer Friedensperspektive zu arbeiten. Ohne die richtige Theorie kann keine richtige Praxis erreicht werden. Daher wurde auch in dieser gemeinsamen Reflexion entschieden, dass das Jahr 2020 unter dem Stern der politischen Bildung stehen wird.
Auf der Tagung wurde kritisiert, dass die Proteste zu oft punktuell blieben, wobei der Weg des Friedens Ausdauer und Nachhaltigkeit erfordere. Aus den Erfahrungen wurde geschlossen, dass nur mit Bildung Kontinuität entstehen und die Philosophie des Demokratischen Konföderalismus in ihrer Gesamtheit verstanden und verinnerlicht werden kann. Hierin inbegriffen wurde auch die Verstärkung internationaler Zusammenarbeit und Vernetzung, der weltweite Schulterschluss revolutionär fortschrittlicher Kräfte und Bewegungen. In der Zusammenarbeit seien weiße Europäer*innen insbesondere dazu aufgerufen, fortlaufend den eigenen verinnerlichten Rassismus zu reflektieren und abzulegen, um einander freundschaftlich begegnen und emotional stärken zu können.
Konstruktive Arbeitsgruppen
In der folgenden intensiven Arbeitsphase gab es Gruppen zu den Themenblöcken Informationsarbeit, Politische Bildungsarbeit, Zivilgesellschaft und Bündnisse, Kampagne Türkei-Boykott, Aktionen sowie zur Antirepressionsarbeit. Zunächst wurde ein gemeinsames Verständnis der Arbeitsbereiche sowie ihrer grundlegenden Begriffe hergestellt, um hiervon ausgehend konkrete Planungen zu erstellen. Die Diskussionen und Ergebnisse der jeweiligen Gruppen waren erfolgreich und konstruktiv, können in diesem Artikel aber nicht in ihrer Gänze wiedergegeben werden. Die erarbeiteten und gemeinsam verabschiedeten Verbesserungen und Lösungsvorschläge für bestehende Probleme werden in den Arbeiten dieses Jahres sichtbar werden und können bei Interesse über Civaka Azad erfragt werden. Sowohl in der Arbeitsphase wie auch den anschließenden Regionalgruppen-Treffen wurden ihre konkreten Umsetzungen geplant und koordiniert.
Solidaritätserklärung für G20-Betroffene: We stand united!
Für die Betroffenen der G20-Repression wurde auf der Konferenz eine Solidaritätserklärung verabschiedet: „Wir, die Teilnehmer*innen der zweiten Internationalistischen Kurdistan-Konferenz, erklären uns solidarisch mit den von Repression betroffenen Menschen, die bei den G20-Protesten 2017 in Hamburg gegen die kapitalistische Moderne ihren Protest auf die Straße getragen haben und deshalb ins Visier der staatlichen Verfolgungsbehörden geraten sind. Neben dem Elbchausee-Verfahren und dem Verfahren von den drei von der Parkbank steht exemplarisch dafür die Polizeigewalt am Rondenbarg und die damit zusammenhängenden Massenprozesse gegen dutzende GenossInnen, die eine neue Qualität der Repression darstellen. Sie sind nur der Gipfel einer Verfolgungswelle, die sich gegen Menschen richtet, die den Status Quo der patriarchalen, kapitalistischen Gesellschaft nicht mehr akzeptieren wollen. Ihr seid nicht alleine – one struggle – one fight! We stand united!"
Die Besatzung der Köpfe beenden
In der Abschlussrede wurde neben den Errungenschaften auch auf die Schwere des Jahres 2019 eingegangen und hervorgehoben: „Wir schaffen es gemeinsam für den Kampf, den uns das System aufzwingt, die Kraft zu entwickeln!“ Die Tagung habe die Vielfalt der Generationen und Bereiche gezeigt, die gemeinsam für Frieden und Freiheit einstehen: „Wir werden lernen, mit den großen und schmerzvollen Verlusten kollektiv umzugehen, denn der Krieg wird weitergehen. Wir haben viele Ziele und wir werden sie erreichen. Das dringlichste ist die Freiheit Abdullah Öcalans und wir haben die Zwischenziele, die Besatzer aus dem Land und aus unseren Köpfen zu vertreiben!“