Afghanische Aktivistin: Für uns ist noch nicht alles vorbei

Mahmouda A. kämpfte in Afghanistan für die Rechte von Frauen. Dann wurde sie von den Taliban bedroht und musste fliehen. Unter deren erneuten Herrschaft wird das Leben für Frauen eine Hölle sein. Aber es ist noch nicht alles vorbei, sagt sie.

Die Anschläge vom 11. September 2001 führten zur US-Invasion in Afghanistan. Fast 20 Jahre später droht ein Rückfall in die blutigen 90er Jahre. Seit Beginn des vollständigen Abzugs internationaler Truppen haben die militant-islamistischen Taliban im Eiltempo weite Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Mittlerweile erklärten sie sich zu den neuen Machthabern des südasiatischen Landes. Der Blitzfeldzug binnen weniger Tage und die Eroberung der Hauptstadt Kabuls stellen den Höhepunkt des Afghanistan-Konflikts dar.

Den Preis für das Versagen des Westens wird die afghanische Bevölkerung zahlen, vor allem die Frauen. Die Taliban begehen bereits jetzt schwere Menschenrechtsverletzungen an Zivilistinnen und Zivilisten. Für Frauenrechtlerinnen ist die Lage in Afghanistan besonders bedrohlich. Eine der ersten Amtshandlungen der Terrororganisation in Kabul war es, weiblichen Moderatorinnen die Arbeit im staatlichen Fernsehen zu verbieten. Dies geschah nur wenige Tage, nachdem die Islamisten groß ankündigten, dass Frauen weiterhin in Freiheit leben dürften und ihre Rechte respektiert würden.

Die Journalistinnen Gözde Çağrı Özköse und Zemo Ağgöz von der kurdischen Nachrichtenagentur Mezopotamya haben mit der afghanischen Aktivistin Mahmouda A. über die Situation für Frauen in Afghanistan gesprochen. Mahmouda A. kämpfte in ihrer Heimat jahrelang für die Rechte von Frauen und Mädchen. Dann wurde sie von den Taliban bedroht und musste flüchten. Seit zwei Jahren lebt sie irgendwo in Europa im Exil. „Unter ihnen wird das Leben zur irdischen Hölle für Frauen sein”, sagt Mahmouda A. „Aber revolutionäre und feministische Frauenorganisationen arbeiten weiterhin im Untergrund. Sie kämpfen weiter gegen die Taliban. Für uns ist noch nicht alles vorbei.”

Wie lange sind Sie schon in Europa? Warum mussten Sie das Land verlassen? Wie war die Situation in Afghanistan bei Ihrer Abreise und wie ist sie jetzt?

Ich bin seit zwei Jahren in Europa. Mein Leben als politische Aktivistin war in Gefahr. In Afghanistan war ich Teil des politischen Widerstands. Doch die Taliban und andere Terrorgruppen hatten mich als solche identifiziert. Sie fanden heraus, wer ich war und erklärten öffentlich, dass sie mich töten wollen. Auch jetzt ist mein Leben weiterhin in Gefahr. Unter diesen Umständen musste ich Afghanistan verlassen. Ich bin nach Europa gekommen und setze meinen Kampf hier fort. Ich kämpfe immer noch für die Rechte des afghanischen Volkes, der afghanischen Frauen. Als ich hierher kam, war die Situation nicht so schlimm wie jetzt, aber sie war dennoch dramatisch. Zum Zeitpunkt meiner Ankunft unterstand die Verwaltung einiger Städte der afghanischen Regierung. Denn auch damals wurde ein Teil Afghanistans von den Taliban auf Basis der Scharia regiert. Aber natürlich ist jetzt alles extrem schlechter geworden und ganz anders als damals, als ich Afghanistan verlassen habe.

Afghanistan war bereits vor 20 Jahren unter der Herrschaft der Taliban. Was bedeutet es als Kind oder Frau in Afghanistan, unter den Taliban zu leben?

In Afghanistan ist es schon schwierig, ein Mensch zu sein, aber noch viel schwieriger ist es, eine Frau zu sein. Vor allem eine säkulare, aktivistische Frau mit politischen Ansichten zu sein bedeutet die Hölle. Die Taliban sind eine Bande aus reaktionären Verbrechern; eine extrem frauenfeindliche Gruppe. Genauer gesagt handelt es sich um eine Gruppe, die gegen alle demokratischen Rechte ist. Daher ist es sehr schwierig, in Afghanistan zu leben. Sie wollen nicht, dass Frauen zur Schule gehen oder arbeiten. Ihrer Ansicht nach sollte eine Frau wie ein Objekt, wie ein Gegenstand zu Hause bleiben. Als Frau in Afghanistan besteht kein Unterschied zwischen Ihnen und einem Sessel. Es ist eine sehr schwerwiegende Situation. Zwar geben sich die Taliban seit der Machtübernahme gemäßigt und behaupten, die Scharia in einer moderaten Weise auszulegen. Frauen dürften am öffentlichen Leben teilnehmen und Berufe ausüben, wenn dies mit dem islamischen Recht vereinbar sei. Aber das werden wir ihnen niemals glauben. Schließlich geht es nicht nur darum, zur Arbeit oder zur Schule zu gehen. Wenn du an einem Ort nicht frei bist, kannst du nicht leben. So einfach ist das. Auf der anderen Seite gibt es immer noch Menschen, die dort versuchen zu existieren und zu leben. Es gibt immer noch revolutionäre, feministische Frauenorganisationen. Natürlich können sie nicht in der Öffentlichkeit agieren, aber sie arbeiten im Untergrund. Sie kämpfen weiter gegen die Taliban. Für uns ist noch nicht alles vorbei.

Können Sie mit Familie oder Freund:innen kommunizieren, die in Afghanistan leben? Wie ist die Situation im Land gerade? Dürfen Frauen das Haus verlassen?

 Ja, ich bin im Kontakt mit meiner Familie und meinen Freund:innen. Die Lage ist sehr schlimm und die Menschen haben Angst. Niemand geht zur Arbeit oder zur Schule. Sie wissen nicht, was sie erwartet, wenn sie das Haus verlassen. Jeder hat nur eine Motivation: den Flughafen erreichen. Sie haben sicherlich die Aufnahmen vom Flughafen gesehen. Ich denke, besser kann man die Hilflosigkeit und Angst der Bevölkerung dort nicht mit Worten ausdrücken. Es gab Menschen, die sich an Flugzeuge klammerten, um zu fliehen. Laut meiner Familie und meinen Bekannten gibt es Gruppen, die Geschäfte und Banken plündern, während die Straßen leer sind. Die Taliban behaupten, dass sie diese Gruppen nicht anerkennen, dass diese nicht zu ihnen gehören würden. Einige der Frauen in Herat und Kandahar versuchten, zur Arbeit oder zur Universität zu gelangen. Die Männer der Taliban halten die Eingänge schicken Frauen wieder weg. „Geht und bleibt zuhause“, wird ihnen gesagt. Es heißt, Ärztinnen in Kabul könnten ihre Arbeit fortsetzen. Aber wie es damit weitergehen wird, ist natürlich unklar. Ich bin mir jedoch sicher, dass das Leben für Frauen in Afghanistan von nun an die Hölle sein wird.

Konnte die US-Präsenz in Afghanistan dem Land, wie behauptet, Frieden und Demokratie bringen? Was halten Sie von der Entscheidung der USA, sich aus Afghanistan zurückzuziehen? Konnten die Taliban Afghanistan so schnell übernehmen, weil die USA sich zurückzogen?

Wir wussten von Anfang an, dass die USA nicht nach Afghanistan gekommen sind, um dem afghanischen Volk zu helfen. Sie sind gekommen, um das Land zu besetzen. Um unsere demokratischen Rechte ging es ihnen nie. Sie kamen wegen ihrer eigenen imperialistischen Interessen, nicht wegen der armen Bevölkerung Afghanistans. Jetzt sind sie weg. Wir wollten sie ohnehin nicht haben. Dass auf den Straßen keine US-Soldaten mehr patrouillieren, ist daher nicht negativ. Denn sie haben in Afghanistan kein einziges Problem gelöst, im Gegenteil. Sie haben das Land nach Gutdünken bombardiert und Menschen getötet. Sie taten dies unter dem Deckmantel der Taliban-Bekämpfung. Da stellt sich die Frage, wie dieses massive Erstarken der Taliban zustande kam, während US-Soldaten durch unser Land wanderten und angeblich den Terrorismus bekämpften? Die Antwort lautet: weil sie die Taliban unterstützen. Wir sehen, dass dies ein abgekartetes Spiel ist. Wir sehen, wie sie mit dschihadistischen Banden und den Taliban kollaborieren. Es gibt ein Abkommen zwischen den USA und den Taliban. Die USA kümmern sich nicht um Demokratie, Menschenrechte, Bildung und Zugang zur Gesundheit in Afghanistan. Die Taliban sind Marionetten dieser Kräfte, das ist selbst diesen Islamisten bewusst. Wir wollen weder die USA noch Kräfte anderer Staaten in unserem Land. Sie kommen nicht, um Probleme zu lösen. Sie kommen, um welche zu erschaffen.

Die Türkei hat kürzlich erklärt, dass sie nichts gegen die Überzeugungen der Taliban hätte. Kurz darauf erklärten die Taliban, dass sie freundschaftliche Beziehungen zur Türkei pflegen wollen. Wie bewerten Sie diese Haltung der Türkei?

Ich bin einerseits unglaublich wütend darüber. Andererseits bin ich nicht überrascht. Erdogan hatte recht. Tatsächlich unterscheiden sie sich im Denken nicht sehr voneinander. Sowohl Erdogan als auch die Taliban sind reaktionär und kriminell. Natürlich werden sie gut miteinander auskommen. Das war ohnehin das Ziel der Türkei. Erdogan ist der Vater der meisten reaktionären Gruppen in Afghanistan. Es war zu erwarten, dass sich ein reaktionärer Krimineller und Frauenfeind wie er es ist mit den Taliban abfinden würde. Es besteht kein Zweifel, dass sie sehr gut miteinander auskommen werden.

Was kann die internationale Gemeinschaft für die unter dem Taliban-Regime in Afghanistan gefangenen Völker und Frauen tun?

 Dies ist ein sehr wichtiger Punkt. Das wiederholen wir überall. Die aufgeschlossenen, revolutionären Völker der Welt, der Türkei und Europas, insbesondere die Frauen, müssen ihre Stimme für Afghanistan erheben. Bitte erheben Sie Ihre Stimme gegen das, was die imperialistischen Mächte Afghanistan antun. Zeigen Sie der Welt, was mit uns geschieht. Zeigen Sie der Welt, was sie unseren Leuten antun. Wir wollen nicht die Hilfe irgendeiner Regierung. Wir appellieren an die Völker der Welt. Keine Regierung tut etwas für das Volk. Sie tun es für sich. Erste Länder haben sich bereits zu freundlichen Beziehungen mit den Taliban bereiterklärt. Alle laden die Taliban zu Verhandlungen ein. Wie bereit und eifrig alle zu sein scheinen, mit den Taliban zu verhandeln. Wir appellieren an die Völker der Welt, Menschenrechtsorganisationen und Revolutionäre: Verschaffen Sie unserer Stimme Gehör, seien Sie solidarisch mit uns.

 Abschließend: Wie fühlen Sie sich in der aktuellen Situation? Wie ist es für Sie, Ihr Land so zu sehen?

 Es ist unglaublich traurig. Ich habe seit Tagen nicht geschlafen und weine. Es ist sehr schwierig. Es ist wirklich Schicksal, in einigen Regionen dieser Welt zu leben. Und in diesem Sinne hat besonders das afghanische Volk wohl kein Glück.