25. November: Es hättest auch du sein können!

„Um Gewalt an Frauen und Feminizide zu verhindern, brauchen wir zuallererst eine mentale Revolution“, erklärt Zeynep Dersim von der kurdischen Frauenbewegung in Europa.

Die kurdische Frauenbewegung in Europa (TJK-E) startet zum internationalen Kampftag gegen Gewalt an Frauen eine Kampagne unter dem Motto: „Gewalt an Frauen ist politisch: Es hättest auch du sein können!“ Die Kampagne wird von zahlreichen Verbänden und Einrichtungen getragen. Im ANF-Interview äußert sich die TJK-E-Aktivistin Zeynep Dersim zu den Inhalten der Kampagne, die auf eine Bewusstseinsveränderung von Frauen und Männern abzielt.

Was habt Ihr im Rahmen dieser Kampagne vor? Welche konkreten Schritte plant Ihr?

Gewalt an Frauen, Gewalt gegen die Gesellschaft, gegen die Natur und das Universum, Konzepte wie Zwang, Gewalt und Krieg sind alles Werkzeuge von Staat und Herrschaft. Ein Ort, an dem sich diese Konzepte institutionalisieren und legalisieren, ist der Staat. Der Staat selbst ist ein Werkzeug der Gewalt. Gewalt an Frauen ist systematisch und zugleich eine wirkmächtige Kraft in der Hand des Systems. Alle Formen von Gewalt gegen Frauen sind Ergebnisse politischer Angriffe des Systems. Deshalb sagen wir, dass Gewalt gegen Frauen politisch ist.

Wir verstehen den Kampf gegen Gewalt an Frauen nicht als etwas, was wir aufschieben können. Das ist auch nichts, was wir der Zeit überlassen können. Im Gegenteil es ist ein Problem, das hier und jetzt gelöst werden muss. Fast jeden Tag lesen wir Nachrichten darüber, wir hören davon oder erleben es mit, dass Frauen Gewalt erfahren, dass sie vergewaltigt oder ermordet wurden. Statistisch gesehen wird in der Türkei alle vier Stunden eine Frau vergewaltigt und zum Ziel von Gewalt durch Männer. Auch in Europa sind die Statistiken ähnlich. Zum Beispiel wird in Deutschland täglich eine Frau Opfer eines versuchten Mordes durch ihren Partner oder Ex-Partner.

Mit unserer Kampagne wollen wir auch gesellschaftlich tabuisierte Themen, im Verborgenen gelassene Ereignisse und unter den Tisch gekehrte Probleme aufgreifen. Wir wollen die historischen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Dimensionen von Gewalt gegen Frauen analysieren. Frauen sollen in ihrem Recht auf Selbstverteidigung gestärkt werden. Es soll ein Bewusstsein über die Situation von Frauen entstehen.

Eines der wichtigsten Ziele der Kampagne ist, mit Männern, die sich selbst als demokratisch und freiheitssuchend bezeichnen, grundlegende Kriterien ihres Umgangs mit Frauen zu diskutieren.

Gemeinsam mit anderen Frauenorganisationen wollen wir Bündnisse aufbauen, um solidarisch gegen Gewalt an Frauen zu kämpfen. Dafür planen wir Veranstaltungen und Seminare, aber auch Demonstrationen, kreative und öffentlichkeitswirksame Aktionen wie zum Beispiel Straßentheater. Ziel ist es, das Thema immer wieder in die Öffentlichkeit und die Medien zu bringen. Um Gewalt an Frauen und Feminizide zu verhindern, brauchen wir zuallererst eine mentale Revolution.

Im Oktober fand die internationale Frauenkonferenz „Revolution in the Making“ in Frankfurt statt, auf der über die Situation von Frauen weltweit und die Notwendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens gegen den patriarchalen Normalzustand diskutiert wurde. Das Thema Gewalt gegen Frauen spielt überall auf der Welt eine Rolle. Wie seid Ihr zum 25. November mit Frauen aus anderen Ländern vernetzt?

Am 25. November finden weltweit große und kraftvolle Aktionen statt. Dieses Jahr werden diese Aktionen in noch größerer Verbundenheit und mit einem noch größeren Bewusstsein, dass an vielen verschiedenen Orten der Welt eine Organisierung der Frauen begonnen hat, geführt werden. Auf vielen Demonstrationen werden Grußworte füreinander verlesen werden. Es wird an vielen Orten an die ermordeten Frauen gedacht werden - den Kämpferinnen, Politikerinnen, Ehefrauen, Partnerinnen, Aktivistinnen, Journalistinnen, jungen Mädchen. Einen besonderen Platz wird die Frauenrevolution in Kurdistan einnehmen, denn von Anfang an war der 25. November ein Tag, an dem politischen Kämpfen gedacht wurde. Der Kampf der Mirabal-Schwestern wird heute von Frauen in Kurdistan fortgeführt und wir sehen, dass er noch viel stärker, breiter und organisierter geworden ist. Neben Demonstrationen werden auch Seminare zum Kampf der kurdischen Frauenbewegung veranstaltet. Außerdem finden gemeinsame Seminare statt, bei denen mit anderen Gruppen Wege zum Kampf gegen Gewalt und Feminizide aufgezeigt und neue gesucht werden. Dass die kurdischen und ezidischen Frauen nicht länger akzeptiert haben, einem Feminizid, Vergewaltigung und Versklavung ausgesetzt zu sein und ihr Schicksal in die eigene Hand genommen haben, hat viele Frauen berührt. Sie sagen: „Wenn uns niemand schützt, müssen wir unser legitimes Recht auf Selbstverteidigung wahrnehmen.“ Das hat für viele Frauen Relevanz und wird als Beispiel zur Lösung ihrer eigenen Situation diskutiert. Daneben haben dieses Jahr die Aktionen zum Tag gegen Gewalt an Frauen in Rojava und in den überwiegend arabisch besiedelten Gebieten in Nordsyrien eine enorme Bedeutung. Noch vor etwas mehr als einem Jahr war Raqqa die Hochburg des IS, einer der krassesten Form der patriarchalen Herrschaft, heute ist Raqqa zum Symbol der Frauenbefreiung geworden. Um den 25. November finden dort Seminare zu Gewalt an Frauen und zum freien Zusammenleben statt. Es werden Flugblätter verteilt, um möglichst viele Frauen zu erreichen, und es wird eine große zentrale Demonstration geben. Frauen weltweit werden am 25. November nach Raqqa schauen und mit ihren Aktionen ihre Grüße an diesen bedeutenden Ort schicken!

Vor fast sechs Jahren wurden die drei kurdischen Revolutionärinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez in Paris vom türkischen Geheimdienst MIT ermordet. Da der Auftragsmörder im Gefängnis verstorben ist, wurde niemand für diese Tat zur Rechenschaft gezogen. Ist auch zum kommenden Jahrestag am 9. Januar wieder eine Demonstration in Paris geplant?

Die Frage ist ja: Wie kann es sein, dass in einem sogenannten Rechtsstaat ein dreifacher politischer Mord begangen wird, ohne dass die Umstände aufgeklärt werden? Gerade im Vergleich zu den politischen Morden an Khashoggi oder Skripal sehen wir, dass politische Morde nur dann aufgeklärt werden, wenn es den eigenen Interessen dient oder eine breite Öffentlichkeit sich für die Aufklärung einsetzt. Auch zum kommenden Jahrestag der Ermordung von Sakine, Fidan und Leyla werden wieder Tausende nach Paris strömen und die französische Justiz an diejenigen Werte erinnern, für die sie sich rühmt, wenn es um die Abgrenzung zum Nahen Osten geht: Aufklärung, Gerechtigkeit, Demokratie. Die Demonstration findet am 12. Januar 2019 in Paris statt.