Vortrag von Ismail Küpeli: Hundert Jahre Republik Türkei

In Heilbronn und Tübingen haben Veranstaltungen zum Thema „Hundert Jahre Republik Türkei: Durch Gewalt und Exklusion zum Nationalstaat?“ stattgefunden. Als Referent war der Politikwissenschaftler Ismail Küpeli eingeladen.

In Heilbronn und Tübingen haben Veranstaltungen zum Thema „Hundert Jahre Republik Türkei: Durch Gewalt und Exklusion zum Nationalstaat?“ stattgefunden. Als Referent war der Politikwissenschaftler Ismail Küpeli eingeladen, der seinen Vortrag wegen des Bahnstreiks online hielt.

Die Veranstaltung im Kurdischen Gesellschaftszentrum Tübingen am Freitag fand in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Internationalismus und der Rosa Luxemburg Stiftung statt und begann mit einem gemeinsamen Abendessen. Nach dem Vortrag gab es die Möglichkeit für Nachfragen und Austausch. Es wurde viel über die Entstehung der Republik Türkei diskutiert. Zum Abschluss gab es einen musikalischen Beitrag. Bis in den späten Abend wurde Govend getanzt und dabei auch die Befreiung Kobanês vom IS vor neun Jahren gefeiert.

Am Samstag wurde der Vortrag in einem Hörsaal der Universität Tübingen wiederholt. Organisiert wurde die Veranstaltung vom Kurdischen Gesellschaftszentrum Reutlingen-Tübingen e.V., der feministischen Organisierung „ Gemeinsam Kämpfen“ und kurdischen Studierenden mit Unterstützung vom StuRA Tübingen. Auch hier gab es die Möglichkeit, sich vor dem Vortrag bei Tee und Kaffee treffen. Der Vortrag wurde von knapp siebzig Interessierten besucht, im Anschluss fand ein dynamischer Austausch statt.

Gewaltsame Durchsetzung von Nationalstaatlichkeit

Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum und Autor der Dissertation „Die kurdische Frage in der Türkei. Über die gewaltsame Durchsetzung von Nationalstaatlichkeit“ . Er analysiert und kommentiert die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Türkei und insbesondere die staatliche Politik gegenüber Minderheiten. In seinem Vortrag schilderte er die hundertjährige Geschichte der Republik Türkei als die Geschichte einer gewaltsamen Durchsetzung von Nationalstaatlichkeit und der autoritären Schaffung einer türkischen Nation, in deren Verlauf viele Bevölkerungsgruppen Opfer von Diskriminierung, Marginalisierung, Exklusion, Vertreibung und Vernichtung wurden.

Die Türkei wurde als autokratischer Staat gegründet

Die Republik Türkei wurde als ein autokratischer Staat gegründet. Auch mithilfe von Todesurteilen und anderen drakonischen Strafen wurden verschiedene politische und gesellschaftliche Kräfte aufgelöst. Mit der autokratischen Umgestaltung von Staat und Gesellschaft sowie der Ausschaltung jeglicher politischer Opposition war die kemalistische Staatsführung in der Lage, ihre Entwürfe der türkischen Nation und des türkischen Nationalstaats durchzusetzen. Mit der Inszenierung von Rasse und Nation ging das Postulat einer homogenen und unveränderlichen türkischen Sprache, Kultur und Geschichte einher.

Zur Aufgabe der kulturellen und sprachlichen Identität gezwungen

Dies ermöglichte es, eine unüberwindbare Grenze zwischen dem Eigenen und dem Anderen zu ziehen. Das Andere, in diesem Fall nicht-türkische muslimische Bevölkerungsgruppen wie die Kurd:innen, konnten dieser Vorstellung zufolge nur dann Teil der türkischen Nation werden, wenn sie sich einerseits der Assimilation würdig erwiesen und andererseits bereit waren, ihre eigene kulturelle und sprachliche Identität vollständig aufzugeben. Während Angehörige nicht-muslimischer Bevölkerungsgruppe per se als nicht assimilierbar galten und damit grundsätzlich aus der Nation ausgeschlossen waren, wurden nicht-türkische Muslim:innen wie die Kurd:innen zu Objekten der Assimilationspolitik. Im Falle kleinerer nicht-türkischer muslimischer Bevölkerungsgruppen gelang dies so weit, dass diese Gruppen ihre jeweilige Identität weitgehend verloren und die einzelnen Angehörigen dieser Gruppen in die türkische Nation assimiliert wurden.

Assimilationspolitik in Kurdistan weitgehend gescheitert

Im Fall der Kurd:innen scheiterte diese Assimilationspolitik hingegen weitgehend. Der türkische Staat konnte die kurdischen Provinzen nur mit militärischer Gewalt unter seine Kontrolle bringen. Die kurdische Bevölkerung blieb weiter staatsfern bis staatsfeindlich eingestellt. Und so wurde über die kurdischen Provinzen das Kriegsrecht verhängt. Im Zuge der Militäroperationen wurden tausende Menschen getötet und Zehntausende vertrieben. Später wurde das Kriegsrecht abgelöst durch Ausnahmezustände und andere Formen der Sonderverwaltung. Die kurdischen Provinzen wurden zum Objekt staatlicher Bevölkerungspolitik. Diese zielte darauf ab, die Kurd:innen durch Zwangsumsiedlungen in westliche Gebiete der Türkei sowie eine Ansiedlung türkischer Zuwanderer:innen in vormals kurdischen Gebieten als eigenständige Bevölkerungsgruppe zu zerstören.