Mit Shar Hassan vom Baloch National Movement
Belutschistan, das Land der Belutsch:innen, wird heute zwischen drei Staaten zerteilt: Der Iran herrscht im Westen, Afghanistan im Nordwesten, der größte Teil ist von Pakistan besetzt. Nach dem Abzug der englischen Kolonialmacht marschierte der frisch gegründete pakistanische Staat unterstützt von westlichen Mächten ein und verdoppelte seine Staatsgröße. Es war nicht der Beginn der Unterdrückung der Belutsch:innen, führte aber zu einer neuen, brutalen Form.
Am Samstagabend sprach Shar Hassan, der Vorsitzende des Baloch National Movement in Deutschland, auf der von der Antirepressionskoordination International Leipzig organisierten Veranstaltung „Belutschistan: Der blutige Weg zur Freiheit“ über die Geschichte und Gegenwart des belutschischen Befreiungskampfes. Die 80 Teilnehmenden lernten über die Ausbeutung der vielfältigen Ressourcen durch pakistanische, aber auch chinesische Unternehmen und den China-Pakistan Economic Corridor (CPEC), eine Transport- und Energieverbindung von China zum arabischen Meer, quer durch Belutschistan. Wie auch aus Kurdistan und anderen Konflikten bekannt, geht mit der ökonomischen Unterdrückung auch das Verbot der belutschischen Sprache und Kultur einher. Auf 44 Prozent Pakistans hat die ursprüngliche Bevölkerung faktisch fast keine medizinischen Einrichtungen, kaum Zugang zu Schulen oder Universitäten und oft nicht einmal die Verfügung über ihr Land. So ist der Zugang zum Meer rund um die Metropole Gwadar wegen des CPEC blockiert, während chinesische und pakistanische Unternehmen Fischfang in einem Umfang betreiben, der nicht regeneriert werden kann. Ein weiteres Problem liegt in der massiven Umweltzerstörung durch die Besatzer, die nicht nur aus dem Ressourcenraub folgt. So führte Pakistan 1998 Atombombentests in Belutschistan durch. Bis heute leiden Menschen unter den Spätfolgen.
Nach dieser Einordnung beleuchtete Shar Hassan verschiedene Formen des Widerstands in Belutschistan. Dieser ist vor dem Hintergrund des brutalen Vorgehens des pakistanischen Staates zu verstehen: Nach den ersten drei Widerstandswellen ab der pakistanischen Besetzung 1947, die vor allem um einzelne Stammesführer organisiert waren, gründeten sich ab den 1970er Jahren verschiedene Guerilla-Einheiten. Der pakistanische Staat antwortete mit dem Prinzip abschrecken: Zunächst wurden führende Personen entführt, massakriert und getötet, später beliebige Belutsch:innen, die aus Sicht des Militärs in irgendeiner Weise mit dem Widerstandskampf verbunden sind. Seit den 2000er Jahren geht der politische Überbau der Bewegung, das Baloch National Movement, von mehreren 10.000 willkürlichen Tötungen aus. Fast täglich werden Menschen entführt, teils auf offener Straße, und anschließend fehlt Monate lang jede Information. Sie werden gefoltert und fast immer getötet, wobei ihre Körper zur Unkenntlichkeit entstellt werden. Shar Hassan zufolge, der selbst aus dem Süden von Belutschistan stammt, hat fast jede Familie Tote oder Verschwundene zu beklagen.
Aus der Erfahrung der dauerhaften Entrechtung, Ausbeutung und Gewalt besteht ein allgemeines Bewusstsein für die Notwendigkeit militärischen Widerstands. Dieser wird von verschiedenen Milizen organisiert, die seit 2018 unter der Baloch Raaji Ajoi Sangar gemeinsame Strategien verfolgen. Im Kern stehen Angriffe auf pakistanische Militärstützpunkte, chinesische Sicherheitskräfte und die Infrastruktur des Bergbaus, der Öl-Forderung und der CPEC, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Wie alternativlos der Befreiungskampf ist, spiegelt sich in den Fedayeen. Damit wird die Bereitschaft zur Selbstaufopferung bezeichnet, wie sie in letzter Konsequenz von den Majeed-Brigaden gelebt wird: Kleine militärische Einheiten, die in feindliche Stellungen eindringen und bis zur vorletzten Kugel halten. Die letzte ist für die Fedayeen selbst bestimmt. Dabei muss betont werden, dass jede:r Kämpfer:in eine freiwillige Entscheidung trifft und lange Bedenkzeiten auferlegt bekommt.
Im Widerstand gegen die brutale Unterdrückung hat sich in den letzten Jahren auch eine starke Straßenbewegung herausgebildet. Zunächst aus Protesten von Familien, die ihre vermissten Väter und Brüder zurückholen wollten, wurden Massenproteste, lange Märsche und im August dieses Jahres eine Nationalversammlung. Nach einem Aufruf von Mahrang Baloch, Vorsitzende des 2018 gegründeten Baloch Yakjehti Committee, versammelten sich über 100.000 Menschen in Gwadar. Eine mindestens ebenso große Anzahl wurde durch Straßensperren des pakistanischen Militärs aufgehalten, das gleichzeitig das Internet abschalten ließ und das Wasser der Hafenstadt abdrehte. Die am Weiterfahren gehinderten Autos wurden teils angezündet, während die Versammlung immer wieder durch Schüsse unterbrochen wurde. Drei Mordanschläge auf Mahrang Baloch konnten vereitelt werden.
Nach diesem sehr aktuellen Einblick in die Widerstandsbewegungen wurde der Vortrag mit einer Fragerunde beendet, bei der unter anderem nach den politischen Zielen und der Ideologie gefragt wurde. Zwar steht die Bewegung für viele progressive Werte, allerdings lässt sich das schwer in die Schubladen der europäischen Kategorien linker Strömungen einsortieren. Nach Ausführungen von Shar Hassan steht die Befreiung an erster Stelle. Ein politisches System lässt sich erst danach ausformulieren, ein bürgerlicher Nationalstaat wird allerdings nicht als Lösungsweg betrachtet. Genauso wenig eine religiös definierte Gesellschaftsordnung. Im Zentrum müsse die Selbstbestimmung der Bevölkerung stehen, unabhängig von kapitalistischen und imperialistischen Interessen. Gleichzeitig sind ökologische und feministische Ideen immer Teil des Widerstands, wie in einem Artikel auf The Balochistan Post ausgeführt wird, aber immer an den antikolonialen Kampf geknüpft.
Zum Abschluss ging Shar Hassan auf die Bedeutung von Kultur ein: Allen Guerilla-Operationen werden Lieder gewidmet, die wenige Tage später erscheinen. Schnelle Veröffentlichungen sind in allen Arbeitsbereichen essentiell, um dem pakistanischen Staat nicht die Deutungsmacht zu überlassen. Die militärischen Einheiten verfügen auch über eigene Medienarbeiten, die neben Erklärungen auch Erinnerungen an die Shaheeds, die im Kampf Gefallenen, veröffentlichen. Die Veranstaltung endete mit einem Video über Fedayeen Mahal Baloch.