Ähnlich wie in der Türkei der Neunziger, den „dunklen Jahren“, als im Krieg gegen die kurdische Bevölkerung tausende Dörfer angezündet wurden, Folter und extralegale Hinrichtungen an der Tagesordnung waren und etliche Menschen verschleppt und in Polizeigewahrsam „verschwanden”, sind auch in Belutschistan unzählige Personen von Sicherheitskräften entführt worden. Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen verschwanden in den vergangenen Jahrzehnten bis zu 20.000 Personen in Belutschistan. Die meisten tauchten nie wieder auf, die Täter aus den Reihen der Armee gehen straffrei aus. Nur wenige Familien in Belutschistan sind heute noch intakt, nahezu jede hat Angehörige verloren. Die Belutschinnen und Belutschen haben aber noch ein weiteres ähnliches Problem wie die Kurden. Ihr Siedlungsgebiet erstreckt sich über mehrere Staaten: Iran, Afghanistan und Pakistan.
Die große Mehrheit der Bevölkerung Belutschistans, etwa 15 bis 18 Millionen Menschen, lebt im östlichen Teil, im Südwesten von Pakistan. Im Jahr 1666 gründete der Khan von Kalat den ersten unabhängigen Staat des belutschischen Volkes, im 19. Jahrhundert kam die Region unter britische Herrschaft (1839). Es folgte die systematische Trennung Belutschistans in drei Teile. Mit dem Autonomiesonderstatus im kolonialen Britisch-Indien begründen die Belutschinnen und Belutschen bis heute ihr Recht auf Unabhängigkeit. Davon will Pakistan aber nichts wissen. Nach dem Rückzug der Briten 1947 wurde das belutschische Siedlungsgebiet ein Jahr später vom neu gegründeten Pakistan annektiert. Die zunächst noch gewährte Teilautonomie schaffte die Regierung in Islamabad 1955 ab. Seitdem hat es mehrere große Rebellionen gegeben, die alle mit Verweis auf die sogenannte „Aufstandsbekämpfung” brutal niedergeschlagen wurden. Der Kampf des belutschischen Volkes um Freiheit und Demokratie wird auch im Iran weitreichend unterdrückt.
Doch vor allem das pakistanische Regime setzt alles daran, die Freiheitsbewegung der Belutsch*innen niederzuschlagen, und greift dabei auf die schmutzigsten Methoden der Repression zurück. Dennoch setzen die Angehörigen der „Verschwundenen” ihren Kampf um Gerechtigkeit fort, auch wenn die Suche nach dem Schicksal der Vermissten eine ständige Qual ist. Eine von ihnen ist Haseeba Qambrani. Die junge Frau kommt aus der Stadt Kili Qambrani, etwa 250 Kilometer südlich von Quetta, der Hauptstadt Belutschistans. Seit einigen Monaten beteiligt sie sich gemeinsam mit ihren Eltern, drei Schwestern und ihrer Schwägerin in Quetta an einem Sitzstreik von Angehörigen der Vermissten. Eigentlich arbeitet sie im Gesundheitsbereich, widmet aber einen Großteil ihrer Zeit der Suche nach ihrem Bruder und Cousin. Mit Barış Balseçer von der Zeitung Yeni Özgür Politika hat sie über deren Schicksal gesprochen.
Belutschistan ist die ärmste Region Pakistans, in der unter wüstenähnlichen Umständen bis heute vor allem prekäre landwirtschaftliche Subsistenzwirtschaft betrieben wird. Dabei ist das Gebiet reich an Bodenschätzen wie Öl, Gas, Kupfer, Kohle, Platin und Gold und verfügt zudem mit dem Hafen Gwadar über einen strategisch günstig gelegenen Umschlagplatz nahe dem Ausgang des Persischen Golfs. Dennoch mangelt es an einer stabilen Infrastruktur sowie an Stromversorgung und sauberem Trinkwasser. Achtundachtzig Prozent der Belutschen leben unterhalb der Armutsgrenze. Die Bodenschätze werden von der pakistanischen Zentralregierung und chinesischen Unternehmen ausgebeutet. Die Regierung in Peking hat sich bereits vor Jahren zahlreiche Ausbeutungsrechte gesichert.
Leblose Körper in den Straßengraben geworfen
Der Cousin und der Bruder Haseeba Qambranis, Hassan und Hizbullah Qambrani, wurden im Februar dieses Jahres von pakistanischen Sicherheitskräften verschleppt. Seither sind die beiden unauffindbar. Die Familie Qambrani ist von Staatsverbrechen gezeichnet. Bereits im Jahr 2015 waren ein weiterer Bruder und ein Cousin Haseeba Qambranis, Salmain und Gazain, auf ähnliche Weise verschleppt worden. Nach einjähriger Suche wurden im August 2016 nur noch ihre verstümmelten Leichen gefunden. „Sie wurden von Sicherheitskräften verschleppt und festgenommen. Wir haben ihre leblosen, von Kugeln durchsiebten Körper in einem Straßengraben gefunden“, erinnert sich die Aktivistin. Aus der Familie Qambrani sind seit 2019 zehn Personen vom pakistanischen Militär festgenommen worden. Freigelassen wurden nur drei.
Parallelen zu den Samstagsmüttern
Trotz Relativierungen offizieller Stellen handelt es sich bei diesen Fällen nur um Beispiele von tausenden in Belutschistan „Verschwundenen“. Die meisten von ihnen sind männliche Studierende. Nach Angaben von Menschenrechtsaktivist*innen verschwinden täglich drei bis vier Personen.
Die Geschichte von Haseeba Qambrani klingt ähnlich die der Istanbuler „Samstagsmütter”, die synonym für das Schicksal der Verschwundenen in der Türkei stehen und seit 1995 analog zu den argentinischen „Madres de la Plaza de Mayo” Woche für Woche in Sit-Ins mit Bildern ihrer Angehörigen gegen das „Verschwindenlassen“ protestieren und Aufklärung über deren Verbleib fordern.
Seit den 1980er Jahren gelten in der Türkei tausende Menschen, größtenteils Kurdinnen und Kurden, als „verschwunden”. Mit der Praxis des „Verschwindenlassens” machte das Land nach dem Militärputsch vom September 1980 Bekanntschaft. Mitte der 90er Jahre, als der schmutzige Krieg des türkischen Staates gegen die PKK besonders blutig war, erreichte diese Methode ihren Höhepunkt. Schätzungen gehen von über 17.000 „Verschwundenen“ durch „unbekannte Täter“ – das heißt durch parastaatliche und staatliche Kräfte - während dieser dunklen Periode unter Ministerpräsidentin Tansu Çiller aus. Die Leichen wurden in Massengräbern, Höhlen oder in stillgelegten Industrieanlagen verscharrt, auf Müllhalden geworfen, in Brunnenschächten und Säuregruben versenkt oder wie in Argentinien durch den Abwurf aus Militärhubschraubern beseitigt. Oft waren die Betroffenen von der Polizei oder der Armee zu Hause abgeholt worden, oder man hatte sie in die Wache vor Ort zu einer „Aussage“ bestellt, oder sie waren bei einer Straßenkontrolle des Militärs festgehalten worden. Das ist oft das letzte, was ihre Angehörigen vom Verbleib der Vermissten wissen. Die meisten „Morde unbekannter Täter“ gehen auf das Konto von JITEM. So lautet die Bezeichnung für den informellen Geheimdienst der türkischen Militärpolizei, der für mindestens vier Fünftel der unaufgeklärten Morde in Nordkurdistan verantwortlich ist und dessen Existenz jahrelang vom Staat geleugnet wurde. In Belutschistan ist es in der Regel die pakistanische Armee, die sich mit Verschleppungen und extralegalen Hinrichtungen schuldig macht und vor der sich teilweise sogar die Polizei fürchtet.
Auf dem Weg zum Einkaufen verschwunden
Haseeba Qambranis Bruder Hassan verschwand am 14. Februar, nachdem er das Haus verließ, um Lebensmittel einzukaufen. „An diesem Tag schoben wir das Abendessen immer weiter hinaus, da wir auf seine Rückkehr warteten und mein Vater ohne ihn nicht essen wollte“, erinnert sich Haseeba: „Ich versuchte, ihn anzurufen, und hinterließ eine Nachricht, aber er antwortete nicht. Später am Abend erzählte uns eine ältere Frau aus unserer Nachbarschaft, sie habe gesehen, wie Hassan in einem Polizeiwagen weggebracht wurde.“ Am selben Tag wurde auch ihr Cousin Hizbullah von staatlichen Kräften verschleppt.
Den Sitzstreik in Quetta gibt es bereits seit elf Jahren. Hunderte belutschische Familien fordern dort die Rückkehr ihrer Angehörigen, die in den letzten zwei Jahrzehnten in der Region im Grenzgebiet zwischen Pakistan, Afghanistan und dem Iran verschwunden sind. „Im Leben all dieser Familien gibt es keine Momente des Glücks, kein Lachen, keine Freude”, sagt Haseeba Qambrani. „Wir feiern nicht, sondern wir trauern nur. Wir wissen nicht, was wir sonst tun sollen. Der Staat soll Erbarmen haben und unsere Angehörigen zurückgeben.”
Rechtsweg blockiert
Die Familie Qambrani hat alle Mittel des Rechtswegs in Bewegung gesetzt, um Hassan und Hizbullah zu finden: „Wir haben ein Verfahren vor der Kommission für Verschwundene eingeleitet. Der Innenminister von Belutschistan hat zugesichert, dass mein Bruder und mein Cousin freigelassen werden. Aber nichts dergleichen ist passiert.“ Haseeba Qambrani klagt, dass ihre Familie mit der Suche nach Gerechtigkeit allein gelassen wird. „Hassan und Hizbullah sind unschuldige Bürger dieses Landes. Es gibt keinerlei Beweise gegen sie. Auch dem Gericht sind keine Beweise vorgelegt worden. Pakistan ist ein Staat mit einer Verfassung. Wenn jemand eine Straftat begeht, muss er vor Gericht kommen. Hassan und Hizbullah sind unschuldig, deshalb werden sie nicht vor Gericht gestellt. Die Sicherheitsbehörden geben noch nicht einmal offen zu, dass die beiden inhaftiert wurden. Sie werden in den Kerkern der pakistanischen Armee festgehalten und gefoltert.“
Medien werden zensiert, die internationale Öffentlichkeit ausgeschlossen
Qambrani kritisiert auch, dass die Medien in Pakistan zensiert werden und daher das Verschwindenlassen in Belutschistan nicht zum Thema gemacht wird. „Wenn irgendein Kanal in Belutschistan mit uns Kontakt aufnähme und versuchen würde, das Verschwindenlassen meines Bruders und meines Cousins zu thematisieren, würde er sofort von den Sicherheitskräften bedroht. Die Medien hierzulande stehen unter massiven Druck. Presseorgane werden verboten und geschlossen. Lokale Journalistinnen und Journalisten sind ebenfalls vom Verschwindenlassen betroffen. Sie werden in der Regel von paramilitärischen Kräften ins Visier genommen und ermordet.“
Internationale Institutionen müssen sich mit Lage in Belutschistan befassen
Die Presse aus dem Ausland werde ebenfalls zum Schweigen genötigt, da Medienschaffenden die Visa entzogen würden, falls sie über die Situation berichteten, fährt Qambrani fort. Nur wenige internationale Medien würen das Thema aufgreifen. Aber bis auf wenige Ausnahmen wie Amnesty International stellten internationale Organisationen und Einrichtungen nur sehr begrenzte Untersuchungen an. Die Vereinten Nationen ignorieren die bedrohliche Lage für die Zivilbevölkerung. Qambrani appelliert: „Die internationalen Institutionen müssen sich mit den Menschenrechtsverletzungen in Pakistan beschäftigen. Wir erwarten von der internationalen Öffentlichkeit, dass unsere Stimme gehört wird.“