Türkischer Haushalt: Kanonen statt Brot
Der HDP-Abgeordnete Sezai Temelli erklärt, dass fast ein Viertel des Haushalts für Krieg aufgewendet wird, während es große Armut und strukturelle Schwierigkeiten gibt.
Der HDP-Abgeordnete Sezai Temelli erklärt, dass fast ein Viertel des Haushalts für Krieg aufgewendet wird, während es große Armut und strukturelle Schwierigkeiten gibt.
Während sich die Wirtschaftskrise und damit die Armut, der Hunger und die Not in der Türkei immer weiter verschärfen, konzentriert sich der türkische Regierungshaushalt auf die Finanzierung des Krieges in Kurdistan und weiterer expansionistischer Feldzüge des AKP/MHP-Regimes sowie der Bezahlung der Niedrigzinspolitik. Ein weiter umstrittener Punkt des türkischen Haushalts ist das Abfließen von neun Milliarden Türkische Lira (TL) in ein verdecktes Budget für die Spezialkriegsführung, das vom Präsidenten kontrolliert wird.
Verdeckte Haushaltszahlungen für den schmutzigen Krieg
Die größte Anhebung der verdeckten Ausgaben fand im Juni 2021 statt. Damals brach der verdeckte Haushalt mit 463 Millionen TL den Rekord. Damit flossen in den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 eine Milliarde 348 Millionen TL in den verdeckten Haushalt. Seit Herrschaftsantritt der AKP sind insgesamt 28 Milliarden TL in den verdeckten Haushalt abgeführt worden.
Die verdeckten Ausgaben im Haushalt wurden im Jahr 2021 um 30 Prozent auf neun Milliarden TL erhöht. Die im deutschen Sprachgebrauch als Reptilienfond bezeichneten Haushaltsmittel dienen der verdeckten Finanzierung von Militär und Geheimdienst und insbesondere geheimen Operationen. In Paragraph 24 der türkischen Haushaltsgesetzgebung wird der „verdeckte Haushalt“ dementsprechend definiert: „Der verdeckte Haushalt dient nichtöffentlichen Geheimdienst- und Verteidigungsaufgaben, welche der nationalen Sicherheit und bedeutenden Interessen des Staates dienen.“ Dem Gesetz zufolge werden diese Ausgaben dem Budget des Präsidenten zugeschlagen, der auch über deren Verwendung entscheidet.
Im ANF-Interview analysiert der Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Sezai Temelli, den Haushalt des türkischen Staats.
In Ihrer Rede bei den Haushaltsverhandlungen sagten Sie: „Es gibt heute kein Haushaltsrecht.“ Was meinten Sie damit?
Der Haushalt eines Landes sagt uns, wie es mit der Politik dort aussieht. Der Haushalt zeigt die politischen Präferenzen der Regierung. Das ist seine Quintessenz. Daher ähneln sich die Haushalte der vergangen vier Jahre im Präsidialsystem. Die politischen Präferenzen werden darin sehr deutlich. Ob wir uns heute die Wirtschaftskrise, die Ungleichheit oder Ungerechtigkeiten ansehen, sie spiegeln sich in den Haushaltsentscheidungen wider.
Die Regierung hat zwei sehr klare Präferenzen. Das Beharren auf Kriegspolitik und eine Loyalität zum Kapital. Demgegenüber bedeutet dies das Ausbleiben einer Lösung der kurdischen Frage und eine sich immer weiter vertiefende Verarmung. Anstatt die kurdische Frage oder das Problem der Armut zu lösen, meint die Regierung, weiterhin dem Kapital und sich selbst Gelder zufließen zu lassen und damit an der Macht bleiben zu können.
Auf der einen Seite versucht das Regime, sich an der Macht zu halten, indem es das Kapital in der Rüstungsindustrie konzentriert und sich andererseits auf die Konsolidierung rassistischer, nationalistischer Stimmen konzentriert.
Dem Gesetz zufolge fließt das Geld in dem Reptilienfond im Allgemeinen in den Verteidigungs- und Geheimdiensthaushalt. Wie ist vor diesem Hintergrund die deutliche Erhöhung der verdeckten Ausgaben zu betrachten?
Der verdeckte Haushalt wurde für sehr dringende Angelegenheiten eingerichtet. Wir wissen, dass diese Gelder seit der Regierungszeit von Tansu Çiller insbesondere für den schmutzigen Krieg eingesetzt werden. Mit anderen Worten wird seit den 1990er Jahren mit diesem Budget die im Haushalt nicht aufführbare „Drecksarbeit“ finanziert. Das verbirgt auch niemand mehr. Es geht um einen Fonds, der für extralegale Tätigkeiten eingesetzt wird. Mit der Einführung des Präsidialsystems wurde der verdeckte Haushalt zu einem Posten, der vollkommen ins Kriegsbudget floss. In diesem Zusammenhang wurde er in den letzten Jahren zu einem immer weiter wachsenden Bestandteil des Haushalts.
In diesem Jahr wurden für Rüstungs- und Sicherheitsausgaben 246 Mrd. TL bereitgestellt. Bedeutet das, dass es zusammen mit dem verdeckten Fond einen noch größeren Anstieg gibt?
Ja, der für „Rüstungs- und Sicherheitsausgaben“ bereitgestellte Betrag beläuft sich auf 246 Milliarden TL. Es gibt auch weitere 100 Milliarden TL, die im Haushalt nicht sichtbar sind. Es sind also insgesamt fast 350 Milliarden. Das sind mehr als 20 Prozent des Gesamthaushalts. Hinzu kommt der verdeckte Haushalt. Wenn man dann noch die in den anderen Haushaltsbereichen versteckten „Sicherheitsausgaben“ hinzunimmt, dann beträgt der Anteil sogar 23 Prozent am Gesamthaushalt. Das ist immens. Es bedeutet, dass fast ein Viertel des Haushalts des Landes für Krieg aufgewendet wird, während es so viel Armut und strukturelle Schwierigkeiten gibt. Das ist einer der Hauptgründe, warum die Wirtschaft in diese Situation, über die wir heute sprechen, geraten ist.
Wir sehen, dass diese Prioritätenwahl Ausdruck eines sich selbst vergiftenden Regimes ist. In einer Situation, in der die Rüstung rasend expandiert, wird die Frage des Präsidenten „Wisst ihr eigentlich, was eine Kugel kostet?“ von der Frage des Volkes „Weißt du eigentlich, was Brot kostet?“ übertönt.
Ich möchte ein Beispiel geben: Vor kurzem wurde damit begonnen, eine neue Marineartillerie zu entwickeln. Präsident Erdoğan erklärte: „Wir produzieren sie für das Blaue Vaterland auf unseren Meeren.“ Die Produktion dieser Kanonen ist eine sehr veraltete Industrie, und es sind sehr viele Ressourcen dort hineingeflossen. Es gibt aber kein Schiff, das sie tragen könnte. Wollen sie diese Kanonen an Fischerboote binden? Nach der Produktion von Elektroautos kommen sie jetzt ernsthaft mit einer Kanone, die an Fischerbooten befestigt werden soll?
Kanonen statt Brot
Die Situation ist tragikomisch geworden. Die Wirtschaft liegt in Trümmern, die Menschen hungern und leben in Armut. Von überall her ist zu hören, dass die Menschen ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können. Das ist von Menschen im Gesundheitsbereich bis hin zu öffentlich Angestellten, Werktätigen, Bauern, Frauen und Jugendlichen zu hören. Was heißt es, dem gegenüber Kriegsartillerie zu produzieren? Dafür gibt es nur einen Namen und der ist Faschismus. In einem Land, in dem die Menschen auf die Lösung der wirtschaftlichen Probleme warten, wird die überwältigende Mehrheit der Ausgaben in Drohnen, Waffen und Artillerie investiert. Das ist die Ökonomie des Faschismus.
Der Nationale Sicherheitsrat (MGK) hat diejenigen, die das im Zusammenhang mit der sich vertiefenden Krise zur Sprache brachten, als „Elemente der wirtschaftlichen Bedrohung“ bezeichnet. Können wir sagen, dass diese Erklärung des MGK eine Ergänzung des Kriegshaushalts darstellt?
Der Nationale Sicherheitsrat existiert seit den 1960er Jahren. Diese Struktur wurde von Anfang an entworfen, um das Überleben des Regimes und nicht die Sicherheit zu schützen. Seit fast 100 Jahren ist dieses Regime von einem jungtürkischen Geist geprägt. Das Regime steckt in einer so ernsten Krise, dass es für den Machterhalt immer autoritärer wird. So wie alle Freiräume beseitigt wurden, wird nun sogar ins Alltagsleben eingegriffen.
„Ihnen fällt nichts anderes als Repression ein“
Das Wirtschaftsleben prägt das Alltagsleben. Die Miete zahlen, die Kinder an der Schule etwas lernen zu lassen, sich zu versorgen, all das. Wenn man nicht mehr leben kann, dann bringt man das in seinen Forderungen zum Ausdruck. Wenn die Forderungen nicht erfüllt werden, dann zeigt man seinen Widerspruch. Wenn dann auch nichts geschieht, beginnt man, seine natürlichen Rechte als Teil einer organisierten Struktur gegen die Regierung einzusetzen. Das ist Politik. Wenn sich der MGK heute mit der Thematisierung der Wirtschaftskrise unwohl fühlt und Schritte unternimmt, um das zu verhindern, dann ist das ein deutliches Zeichen dafür, in welchen Schwierigkeiten das Regime steckt. Obwohl eigentlich von Grundrechten gesprochen wird, fällt ihnen nichts anderes als Repression ein. Sie wollen ihr Regime der Unterdrückung bis in die Wohnungen tragen. Das türkische Regime ist das Gefängnisregime.
„Fehlende Lösung der kurdischen Frage Hauptursache für Wirtschaftskrise“
Es sei darauf hingewiesen, dass der wichtigste Grund für die Wirtschaftskrise das Fehlen einer Lösung der kurdischen Frage und der damit zusammenhängende Abfluss der Mittel in den Krieg ist. Die Verbindung zwischen diesen Tatsachen zu ignorieren, bedeutet, eines der grundlegendsten Probleme zu ignorieren und wie die anderen Parteien den Kopf in den Sand zu stecken. Es handelt sich um einen problematischen Ansatz, wenn man die Wirtschaft nur anhand makroökonomischer Indikatoren bewertet und die Lage nur als Konjunkturkrise, die überwunden werden könnte, betrachtet. Wir wissen, dass das nicht konjunkturell bedingt ist. Wenn keine Schritte zur Lösung der strukturellen Probleme unternommen werden, wird diese Politik das Land schließlich zum Zusammenbruch führen. Wenn wir uns die Krise der Çiller-Ära im Jahr 1994 oder die Krise von Ecevit 2001 betrachten, dann liegen ihnen zwei entscheidende Faktoren zu Grunde: Die kurdische und die mit der Armut verbundene Klassenfrage.