In Istanbul haben am Sonntag mehrere tausend Menschen gegen die staatliche Wirtschaftspolitik und die Verarmung der Gesellschaft protestiert. Aufgerufen zu der Kundgebung im asiatischen Stadtteil Kartal hatte der linke Gewerkschaftsverband DISK. Mehr als 5.000 Menschen folgten dem Aufruf trotz Kälte und Regen und marschierten in mehreren Zügen zum Versammlungsplatz. Viele Demonstrierende hielten Schilder hoch mit der Aufschrift „Es reicht!“ und „Erhebt euch!“. Mit Parolen wurde die Regierung lautstark und kämpferisch zum Rücktritt aufgefordert.
Die Türkei steckt in einer Währungskrise. Die Landeswährung Lira verliert zwar seit Jahren an Wert, aber noch nie stürzte sie so schnell und so tief wie in den vergangenen Wochen. Seit Anfang des Jahres hat die Lira gar einen Werteverlust von 40 Prozent zu verzeichnen. Während die Kosten für das alltägliche Leben rasant steigen, verarmen immer mehr Menschen. In Istanbul etwa hat sich das Leben nach Angaben der Stadtverwaltung innerhalb eines Jahres um mehr als 50 Prozent verteuert. Den höchsten Preisanstieg verzeichnet demnach Sonnenblumenöl mit einem Plus von rund 138 Prozent. Es gibt bereits Berichte über Rationierungen und Lieferengpässe.
Der Gewerkschaftsverband DISK sieht Recep Tayyip Erdogan und dessen Einmischung in die Geldpolitik der Notenbank verantwortlich für die Lira-Krise. Der AKP-Chef drängt immer wieder auf niedrige Zinsen und vertritt entgegen gängiger volkswirtschaftlicher Lehre die Ansicht, hohe Zinsen förderten die Inflation. Für den Werteverlust der heimischen Währung macht er eine ominöse internationale „Zinslobby“ verantwortlich. Zuletzt rief Erdogan sogar einen wirtschaftlichen „Befreiungskrieg“ aus.
Çerkezoğlu: Erhöhung des Mindestlohns ist unsere rote Linie
„Wenn hier ein Befreiungskrieg geführt wird, kann es nur jener der arbeitenden Klasse gegen Ausbeutung und Sklaverei sein“, sagte Arzu Çerkezoğlu, Generalvorsitzende von DISK, und prangerte zudem die stark gestiegene Inflation an. „Wir kamen ohnehin schon kaum über die Runden, nun verarmen wir mehr und mehr.“ Die Reichen würden immer reicher, während die Armen stetig ärmer werden - trotz Arbeit. Der Gewerkschaftsverband fordert angesichts der Währungskrise vor allem eine Erhöhung des Mindestlohns, über den derzeit verhandelt wird. Waren die bisher geltenden 3.500 Lira brutto vor einem Jahr noch gut 400 Euro wert, sind es jetzt nur noch 230 Euro. „Wir verlangen eine Aufstockung auf 5.200 Lira netto. Das ist unsere rote Linie“, hob Çerkezoğlu hervor.
Mindestens 90 Studierende in Ankara festgenommen
In Ankara sind unterdessen mindestens 90 Studierende festgenommen worden. Das teilte die Initiative „Wir finden keinen Unterschlupf“ mit. Die Studierenden, die teils aus Istanbul und Izmir angereist waren, hatten trotz eines Demonstrationsverbots des Gouverneurs versucht, sich in der Hauptstadt zu versammeln und gegen fehlende Unterkünfte und hohe Mieten zu protestieren. Aufgrund der schlechten Wohnsituation und mangelnder Kapazität in Wohnheimen ist in der Türkei eine Bewegung entstanden, die eine angemessene Unterbringung von Studierenden einfordert. Zuvor waren lediglich dreißig Festnahmen bekannt.