Angesichts des Falls der türkischen Lira durch die neuerliche Zinssenkung und einer galoppierenden Inflation steht die Türkei vor einem wirtschaftlichen Abgrund. Die Kaufkraft der Menschen nimmt täglich weiter ab. Von den Rentner:innen bis zu den Studierenden, alle sind in Sorge um ihren täglichen Lebensunterhalt. Die Menschen sagen, dass sie ihren Lebensbedarf nicht mehr decken können. Wenn sie gegen die Wirtschaftskrise protestieren, sind sie zusätzlich von staatlicher Repression betroffen. Wir haben mit einigen Menschen gesprochen, deren größte Sorge ihre Lebenshaltungskosten geworden sind. Die meisten fordern Neuwahlen und sind trotzdem pessimistisch.
Die Rente reicht nicht zum Leben
Şenay Görür ist Rentnerin und sagt, dass sie einen derartigen wirtschaftlichen Engpass und eine solche Verwaltungsform noch nie erlebt hat, auch nicht während der Zeit der Militärputsche 1960 und 1980. Ihre Rente reiche für den Lebensunterhalt nicht mehr aus, erklärt die 76-Jährige. Die einzige Lösung sieht sie in vorgezogenen Neuwahlen: „Wenn sich die Regierung nicht ändert, wird das Land noch viel mehr Not erfahren. Diese Leute müssen geschlossen von der Verwaltung des Landes abtreten oder sich vor dem hohen Gericht verantworten.“
Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer
Ayten Çorlu macht die falsche Regierungspolitik für die Wirtschaftskrise verantwortlich. Die momentane Lage sei eindeutig der politischen Unfähigkeit geschuldet, sagt die arbeitslose Köchin: „Ich denke, dass die Krise das Ergebnis falscher politischer Schritte der Regierung ist. Wenn sie weiter an der Macht bleiben will, wird sich die Situation verschlechtern.“ Die Reichen seien reicher und die Armen ärmer geworden, meint Çorlu, so könne es nicht weitergehen. Ihre Arbeit hat sie verloren, weil das Lokal, in dem sie gekocht hat, in der Pandemie bankrott gegangen ist. Sie hat eine Tochter zu versorgen, aber inzwischen lässt sich der Grundbedarf der Familie nicht mehr decken. Eine neue Arbeitsstelle hat sie bisher nicht gefunden: „Seit der Pandemie bekommt man im Dienstleistungssektor weniger Gehalt als den Mindestlohn. Auch mein Mann arbeitet im Dienstleistungssektor, das Geld reicht nicht. Aufgrund der Wirtschaftskrise haben wir meine Eltern zu uns geholt, wir leben alle zusammen in einer Wohnung. Sie sind Rentner und alt. Weil das Geld nicht reicht, haben wir unsere Haushalte zusammengelegt.“
Sie warte ungeduldig auf Neuwahlen, sagt Ayten Çorlu. Ihre einzige Forderung seien vorgezogene Neuwahlen. Allerdings lasse sich die Lage nur über Wahlen inzwischen nicht mehr beheben, eine politische und wirtschaftliche Verbesserung werde Jahre in Anspruch nehmen: „Wahlen könnten ein erster Schritt sein. Meiner Meinung nach könnte dabei zumindest das Ergebnis herauskommen, dass die aktuelle Regierung gehen muss. Das wäre eine Erleichterung für alle.“
Im Gesundheitssystem wird Krankheit zu Geld gemacht
Eine Beschäftigte im Gesundheitssektor will anonym bleiben, weil sie im öffentlichen Dienst arbeitet. Sie sagt, dass sie seit 36 Jahren arbeitet und noch nicht in Rente gehen kann. Weder mit ihrem momentanen Gehalt noch mit der zu erwartenden Rente könne sie leben. Gegen diese Politik sollten sich vor allem die arbeitenden Menschen wehren und dafür müssten sie sich zunächst organisieren. In diesem Sinne sollten Gewerkschaften und Arbeitsorganisationen keine individuellen Lösungsvorschläge machen, sondern gemeinsam vorgehen: „In einer Demokratie sind Wahlen wichtig, aber noch wichtiger ist es, dass alle Proteste zur Sprache gebracht werden. Das wünsche ich vor allem den Tausenden jungen Menschen, die in ihren Arbeitsbereichen bereits jetzt keine Zukunftsaussichten mehr haben.“
Unsere Gesprächspartnerin hat in der Pandemie anderthalb Jahre in der Kontaktnachverfolgung gearbeitet und ist dann in den Gesundheitsbereich zurückgekehrt. Das Gesundheitssystem habe sich in dieser Zeit nicht geändert, „als ob nicht passiert sei“. Es handele sich dabei um ein System, in dem Krankheit zu Geld gemacht wird: „Dagegen wehren wir uns als Beschäftigte. Vor allem wir Frauen haben viele Rechte verloren. Wenn ich schaue, was ich für meine Arbeit bekomme, sehe ich eine riesige Null. Die Situation ist schlimm geworden, aber ich werde trotzdem immer meine Meinung sagen, wenn es um Unrecht und Fehler geht.“
Im Kampf um das tägliche Brot verloren gehen
Sema Öçal bezieht eine Betriebsrente von einer US-amerikanischen Firma und sagt, dass das ein bisschen mehr ist als die Standardrente in der Türkei. Trotzdem reicht das Geld nicht und sie muss wieder arbeiten. „Die Situation ist unerträglich geworden, aber niemand tut etwas. Ich bin dafür, dass sich alle Gehör verschaffen. Wir sollten nicht zu Hause bleiben, denke ich. Unabhängig von der jeweiligen Berufsgruppe sollte jeder in seinem Arbeitsbereich die Stimme gegen diesen Verlauf erheben. Nur wenn wir gemeinsam vorgehen, können wir diesen schlechten Verlauf stoppen. Wir müssen für unsere Rechte und gegen das Unrecht kämpfen.“
In jedem Beruf gebe es einen Maßstab für Professionalität, fährt Öçal fort. Die Regierung habe jedoch fern von jeglicher Professionalität in allen Bereichen die eigenen Leute untergebracht. Eine Rückwandlung bedeute den Zusammenbruch. Um aus dieser Situation wieder herauszukommen, seien in erster Etappe vorgezogene Neuwahlen notwendig. „Alle sollten in den Spiegel blicken, ihre Mütze abnehmen und nachdenken, denn alle haben ihren Anteil an den Geschehnissen. Ich denke, dass den Entwicklungen der Weg freigemacht worden ist. Jetzt ist es an allen, diesen Verlauf zu stoppen. Wir kämpfen um das tägliche Brot und in diesem Kampf gehen wir verloren. Wir sind schon viel zu lange ganz unten, jetzt müssen wir endlich nach oben kommen“, so Sema Öçal.
Junge Menschen sind pessimistisch
Seher Gülapoğlu sagt, dass junge Menschen nicht genug Geld für ihren Lebensunterhalt haben. Sie hat Theater studiert, aber selbst der Mindestlohn in ihrem Beruf reicht nicht. Sie hat kein regelmäßiges Einkommen und muss nebenbei jobben. Daher lebt sie immer noch in einer Wohngemeinschaft mit Studierenden: „Ich würde gerne in eine eigene Wohnung ziehen, aber dafür reicht mein Einkommen nicht. Wir teilen uns die Miete zu viert.“
Sie macht sich Sorgen um ihre Zukunft und sagt, dass es keine Chancengleichheit gibt. Jeden Tag denke sie darüber nach, wie sie auf den Beinen bleiben soll. Die stattfindende Krise stehe ohne Diskussion im Zusammenhang mit der Regierungspolitik und sie sei nicht sehr optimistisch, dass sich die allgemeine Lage im Land ändern werde, so die junge Frau: „Ich möchte vorgezogene Neuwahlen, aber selbst wenn es Wahlen gibt – das Land hat so viele Auslandsschulden. Es kommt mir so vor, als ob es lange Zeit braucht, um das zu bereinigen.“
Auch ein Medizinstudent, der anonym bleiben möchte, teilt mit, dass er nicht genug Geld zum Leben hat. Jeden Tag gebe es Preissteigerungen und was er gestern noch gekauft habe, könne er sich zwei Tage später nicht mehr leisten. Das Problem gebe es überall, sagt der Student: „Eine Preiserhöhung nach der anderen. Natürlich sind auch wir von der Dollarsteigerung betroffen. Als Studierende haben wir kein Einkommen und für uns ist es noch schwieriger.“ Nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, auch politisch spüre er einen ständigen Druck, und große Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage habe er nicht. Außer an Geld könne er an nichts mehr denken: „Ich bin beispielsweise letztes Jahr mit meinen Freunden auf Ratenzahlung in den Urlaub gefahren und die Raten zahlen wir seit einem Jahr ab. Ich wohne in einer WG. In der Hoffnung auf bessere Umstände in der Zukunft lerne ich die ganze Zeit.“
Gegen das kapitalistische System kämpfen
Ulaş Uslu sagt, dass die unmenschlichen Bedingungen, die der arbeitenden Bevölkerung auferlegt werden, auch die Studierenden betrifft. Vom Essen bis zum Nahverkehr, alles koste Geld und das habe er nicht. Das kapitalistische System biete ihm keine Lebensmöglichkeit und müsse bekämpft werden, dafür sei ein vereinter Kampf der Massen notwendig. Uslu weist darauf hin, dass die Studierenden ohnehin für kostenlose Bildung und Verkehrsmittel kämpfen: „Die von diesem System erschaffene Krise trifft vor allem die Kinder der arbeitenden Bevölkerung. Wir können unser Recht auf Bildung nicht wahrnehmen. Weil wir arbeiten müssen, können wir nicht studieren. Wir fordern das Recht auf unentgeltliche, angemessene und erreichbare Unterkunft und Ernährung und rufen dazu auf, diesen Kampf zu vergrößern.“