In der nordkurdischen Metropole Amed (tr. Diyarbakir) sind am Samstag tausende Menschen dem Aufruf des Dachverbands linker Gewerkschaften im öffentlichen Dienst (KESK) gefolgt, um gegen Armut und die Wirtschaftspolitik von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan zu protestieren. „Wir können uns nicht mehr versorgen – Schulter an Schulter für ein menschenwürdiges Leben, Arbeit und einen volksorientierten Haushalt“ lautete die zentrale Aussage der Demonstration. An der Veranstaltung beteiligten sich auch Menschen aus Städten wie Riha (Urfa), Mêrdîn, Şirnex, Êlih (Batman), Sêrt und Colemêrg (Hakkari).
Gemeinsam gegen den Status quo vorgehen
„Weil wir alle von der Verschlechterung der Lebensbedingungen und der bevorstehenden Hyperinflation betroffen sind. Weil wir gegen das alles nur ankommen, wenn wir gemeinsam kämpfen. Wir sind hier um die Notwendigkeit aufzeigen, gegen diese Verhältnisse zusammen vorzugehen“, sagte der KESK-Sprecher Nasır Demirkıran zu Beginn der Kundgebung. In einer Prozession waren mehrere groß und bunt gestaltete Blöcke zum Kundgebungsort am Bahnhofsplatz gezogen und hatten die Diversität der Teilnehmenden aufgezeigt: Der türkische Ärztebund (TTB), die kurdische Bewegung freier Frauen (TJA), die Kommunistische Partei Kurdistans (KKP), die HDP, ESP, EMEP sowie die DBP, die Initiative der Friedensmütter und weitere zivilgesellschaftliche Organisationen – sie alle waren mit ihren Mitgliedern vertreten, um ihren Protest auf die Straße zu tragen. Auf Schildern und Transparenten standen ihre Forderungen: „Geschlechtergerechter Haushalt jetzt!“ und „Jin, Jiyan, Azadî“ – „Frauen, Leben, Freiheit“ dominierte im Frauenblock, während zivilrechtliche Verbände „Gerechtigkeit, Recht, Gesetz“ einforderten. Die Gruppen im Demokratie-Block verlangten „Budget fürs Volk statt für den Palast“, die Friedensmütter grüßten den Widerstand der politischen Gefangenen. Gemeinsam wurde immer wieder lautstark der Rücktritt der Regierung gefordert.
„Arbeit, Frieden, Freiheit“ forderte der Block von EMEP
Das Volk leidet, doch das kriminelle Palast-Regime lebt weiter in Saus und Braus
„Während die Schlangen vor den Ausgabestellen für subventioniertes Brot immer länger werden, schaffen sich die Herrschenden in den Palästen immer mehr Geld in die Taschen“, sagte die Ko-Vorsitzende von KESK Şükran Kablan Yeşil. Die Gewerkschafterin hob hervor, dass die vom Staatspräsidenten höchstpersönlich zu verantwortende Wirtschafts- und Währungskrise eine „Arbeitslosenarmee“ produziert habe, die mit jedem Tag an Wachstum gewinne. „Millionen Menschen in diesem Land können sich Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten. Das Volk leidet, doch das kriminelle Palast-Regime lebt weiter in Saus und Braus. Das werden wir nicht akzeptieren.“ Yeşil bezeichnete die kürzlich erfolgte Anhebung des staatlichen Mindestlohns, mit dem rund 40 Prozent der Werktätigen auskommen müssen, als „würdelose“ Augenwischerei. Er steigt ab Januar von 2.825 auf 4.250 Lira. Entsprach der derzeitige Mindestlohn am Anfang dieses Jahres noch 380 Dollar, bekommt man für den neuen aktuell nur noch 250 Dollar. Das zeigt, dass die von Erdoğan stolz als „größte seit 50 Jahren“ verkündete Lohnerhöhung schnell verpuffen wird. Sie gleicht nicht einmal die Inflation dieses Jahres aus, die offiziell 21,3 Prozent beträgt, nach den Daten unabhängiger Fachleute im Vormonat aber bei 58,7 Prozent lag.
Die Gesundheitsgewerkschaft SES verlangt „Leben und Leben retten in der Muttersprache“
Yerlikaya: Alle Krisen im Zentrum der Demokratie- und Gerechtigkeitskrise verankert
Der Arzt Halis Yerlikaya, der zum Zentralrat der türkischen Ärztekammer gehört, sieht die ökonomische Krise und jede andere Gefährdung der Gesellschaft und des Landes im „Zentrum der Demokratie- und Gerechtigkeitskrise“ verankert. „Nicht nur die Wirtschaft ist zerstört worden. Wir sind uns beispielsweise im Klaren darüber, dass unser Gesundheitswesen die Corona-Pandemie hätte besser meistern können, wenn die gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister noch in ihren Ämtern sitzen würden. Doch leider wurde die lokale Demokratie ebenso zerschlagen wie die allgemeine, daher sitzen sie im Gefängnis oder im Hausarrest“, sagte Yerlikaya. Das Gesundheitssystem sei von Regierung und ihren Anhängern zerstört worden, es werde in nichts anderes als Krieg investiert. „Eine Regierung, der das Verständnis für Demokratie und Frieden fehlt, ist die größte Bedrohung für eine Gesellschaft. Denn die Hoffnungslosigkeit über die Zukunft hinterlässt nicht selten unwiederbringlich die soziale Gesundheit.“