Lokale demokratische Innovationen unter Druck
An der Universität Straßburg fand eine internationale Tagung zum Thema „Lokale demokratische Innovationen unter Druck: Die kurdischen Kommunen in der Türkei (1990–2016)“ statt. Organisiert wurde das Fachtreffen vom Forschungszentrum SAGE der Universität Straßburg in Kooperation mit der renommierten Pariser Hochschule École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS).
Ziel der Veranstaltung war es, die kommunalpolitischen Erfahrungen kurdischer Gemeinden im Südosten der Türkei zu analysieren und die Rolle lokaler Demokratie in Konfliktregionen zu beleuchten. Im Fokus standen insbesondere basisdemokratische Strukturen, Bürgerbeteiligung, Gleichstellung und die Auswirkungen politischer Repression.
Demokratische Innovation in Krisenzeiten
Die Referent:innen wiesen darauf hin, dass viele kurdische Kommunen insbesondere in den 2000er-Jahren – trotz starker politischer Repression – zu sozialen Zentren der Teilhabe wurden. Die Einführung von Rätestrukturen, Geschlechterparität durch das Prinzip der Doppelspitze sowie mehrsprachige Verwaltung seien als bedeutende demokratische Innovationen zu bewerten. Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, dass viele ehemalige Bürgermeister:innen inhaftiert oder im Exil seien.
Fachdebatten: Stadtplanung, Widerstand und kollektives Gedächtnis
Im Panel „Innovation in der lokalen Demokratie verstehen“ diskutierten Wissenschaftler:innen die theoretischen und praktischen Dimensionen des Themas. Der Anthropologe Michel Agier (EHESS) kritisierte autoritäre Stadtplanungsideale des 20. Jahrhunderts und plädierte für „offene, unvollständige Städte“, die Migration und Diversität integrieren. Er verwies auf das Beispiel libyscher Geflüchteter in Sierra Leone, die selbstorganisiert funktionierende urbane Strukturen geschaffen hätten.
Die Soziologin Wiebke Keim (Université de Strasbourg) analysierte das kurdische Demokratieverständnis aus der Perspektive „normabweichender“ Praxis, die dominante Ideologien herausfordere. In Anlehnung an Michel Foucault sprach sie über die gesellschaftspolitische Relevanz von Widerstand, insbesondere in Bezug auf Sprache, Kultur und Geschlechterrollen. Die kurdische Bewegung biete, so Keim, „Alternative zur hegemonialen Staatsideologie“.
Hamit Bozarslan (EHESS) stellte heraus, dass kurdische Kommunalverwaltungen mit partizipativen Elementen wie der Doppelspitze, historischer Bezugnahme und Gendergleichstellung ein fortschrittliches Demokratieverständnis praktizieren. Er betonte die Rolle dieser Kommunen als Träger kollektiver Erinnerung an Persönlichkeiten wie Şêx Seîd oder Ahmedê Xanî.
Stimmen ehemaliger Bürgermeister:innen: Repression und Widerstand
In mehreren Panels kamen auch ehemalige kurdische Bürgermeister:innen zu Wort. Osman Baydemir (ehem. Amed / tr. Diyarbakır) berichtete von strukturellen Hürden unter dem sogenannten „Zwangsverwalter“-System, das gewählte lokale Verwaltungen durch staatlich eingesetzte Beamte ersetzt. Die frühere Bürgermeisterin von Cizîr (Cizre), Leyla Imret, schilderte, wie lokale Räte aufgebaut wurden, um Bürger:innen, insbesondere Frauen und Jugendliche, direkt in Entscheidungsprozesse einzubeziehen – bis Militäroperationen und Zwangsverwaltungen die Arbeit abrupt beendeten.
Bedia Özgökçe Ertan (ehem. Wan/Van) kritisierte die Auswirkungen der Zwangsverwaltungspolitik auf frauenpolitische Errungenschaften, wie etwa die Schließung von Frauenhäusern und das Ende von Projekten zur Förderung weiblicher Erwerbstätigkeit. Sie sprach von einem „Angriff auf die gesellschaftliche Selbstorganisation“.
Abdullah Demirbaş (ehem. Sûr) verwies auf das mehrsprachige Verwaltungsmodell in Sûr, das unter anderem auch Armenisch und Syrisch-Aramäisch inkludierte. Die Einführung des „Rat der Vierzig“ sei ein Modell lokaler Repräsentation gewesen, das durch staatliche Eingriffe zerstört worden sei.
Partizipation als Heilmittel gegen Gewalt
Ein weiteres Panel unter Leitung von Fleur Laronze (Université de Strasbourg) widmete sich der Frage, wie partizipative Demokratie zur Bearbeitung kollektiver Traumata beitragen kann. Fatma Şık Barut (ehem. Sûr) schilderte die Folgen der bewaffneten Auseinandersetzungen im Zuge der türkischen Militärbelagerung in Amed 2015/16, bei denen neben Wohngebieten auch UNESCO-geschützte Kulturgüter schwer beschädigt wurden. Sie bezeichnete die darauffolgenden Bauprojekte als „Auslöschung kollektiver Identität durch Beton“.
Fırat Anlı (ehem. Amed) hob hervor, dass in der kommunalen Praxis Prinzipien wie Transparenz, Gleichstellung und partizipative Führung zentral gewesen seien. Trotz politischer und juristischer Verfolgung seien diese Projekte ein Ausdruck des Strebens nach Selbstverwaltung und demokratischer Teilhabe geblieben.
Appell an internationale Öffentlichkeit
Zum Abschluss der Tagung forderten die Teilnehmenden stärkere internationale Solidarität mit demokratischen Bestrebungen in kurdischen Provinzen der Türkei. Im Mittelpunkt standen dabei Forderungen nach der Wiedereinsetzung gewählter Vertreter:innen, dem Schutz lokaler Strukturen und der Anerkennung kultureller Vielfalt.