Gülüm: Semra Güzel soll Abgeordnetenstatus entzogen werden
Nach ihrer Inhaftierung soll der HDP-Abgeordneten Semra Güzel das Mandat wegen Nichtteilnahme am parlamentarischen Prozess entzogen werden.
Nach ihrer Inhaftierung soll der HDP-Abgeordneten Semra Güzel das Mandat wegen Nichtteilnahme am parlamentarischen Prozess entzogen werden.
Die Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Semra Güzel, sitzt seit Anfang September unter Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft. Als Beweis für ihre „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ musste unter anderem ein Foto, das Güzel mit ihrem ehemaligen Verlobten, dem 2017 bei einem Luftangriff in Semsûr (tr. Adıyaman) gefallenen Guerillakämpfer Volkan Bora (Koçero Meletî), zeigt, herhalten. Es wurde eine massive Hetzkampagne gegen die Abgeordnete losgetreten, die in der Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität und ihrer Inhaftierung mündete. Nun soll Semra Güzel unter dem Vorwand ihrer Abwesenheit aus dem Parlament ausgeschlossen werden. Die rechtlichen Schritte dafür wurden bereits eingeleitet. Im ANF-Interview äußert sich die HDP-Abgeordnete Züleyha Gülüm zu dem Verfahren gegen ihre Fraktionskollegin.
Die Verhaftung der HDP-Abgeordneten Semra Güzel erfolgte, ohne dass ihr das Mandat aberkannt wurde. Nun soll ihr der Status als Parlamentsabgeordnete wegen Abwesenheit aberkannt werden. Was sagen Sie als HDP-Abgeordnete dazu?
Die Regierung putscht weiterhin gegen den Willen des Volkes. Der Wille des Volkes von Amed, des kurdischen Volkes, wird usurpiert. Der Wählerwille wird missachtet und es wird versucht, die Stimme des Volkes zum Schweigen zu bringen. Die Immunität unserer Abgeordneten Semra Güzel wurde auf der Grundlage eines konstruierten Ermittlungsverfahrens der auf Befehl der Regierung agierenden Justizbehörde aufgehoben und sie wurde verhaftet. Jetzt soll ihr das Mandat unter dem Vorwand der Abwesenheit entzogen werden. In der Regel wird im Parlament jedoch nicht die Anwesenheit zu einer solchen Frage gemacht. Wenn das so wäre, dann wären die Abgeordneten der Regierungspartei aus dem Parlament entlassen worden. Außerdem ist das Aufgabengebiet einer Abgeordneten nicht nur das Parlament. Es ist auch unsere Pflicht, mitten unter den Menschen zu sein und mit ihnen Seite an Seite auf den Straßen und Plätzen zu stehen.
Die Regierung und ihre Medien haben eine regelrechte Lynchkampagne gegen Semra gestartet. Unsere Abgeordnete wurde daran gehindert, ihre Aufgabe zu erfüllen. Sie schwebte sogar in Lebensgefahr. Trotzdem wurden im Parlament Sondersitzungen mit Anwesenheitspflicht anberaumt, in einem Zeitraum, in dem sie gar nicht teilnehmen konnte. Nun soll sie aufgrund dieser Situation entlassen werden. Das Gesetz wird instrumentalisiert. Die Regierung nutzt das Recht nach eigenem Belieben für ihre eigenen Interessen.
Die Art und Weise von Semra Güzels Verhaftung war höchst umstritten, und die Anklage stützt sich größtenteils auf geheime Zeugenaussagen. Es werden 15 Jahre Haft für sie gefordert. Wie sehen Sie das Verfahren?
Die Verhaftung unserer Abgeordneten wurde von der Regierung zu einer gezielten Show gemacht. Falsche Informationen wurden der Öffentlichkeit über Regierungsmedien zugespielt. Ihre Persönlichkeitsrechte wurden verletzt. Sie war Misshandlungen ausgesetzt. Mit dem Vorgehen gegen Semra wurden Zehntausende Wählerinnen und Wähler missachtet. Aber unsere Abgeordnete Semra protestierte gegen all diese Verstöße, indem sie aufrecht stand und ihren Kopf nicht senkte. Es ist eigentlich nicht sehr sinnvoll, über ein Verfahren einer instrumentalisierten Justiz, die jedes Gesetz missachtet, zu diskutieren. Die Akte mit den Fotos, die als Begründung für die Aufhebung der Immunität von Semra herangezogen wurden, ist aus dem Jahr 2017. Seitdem war ihre Identität geklärt, aber es gab weder einen Haftbefehl noch eine Vorladung zur Zeugenaussage. Denn es gibt kein Vergehen. Das Verfahren wurde von der Staatsanwaltschaft offensichtlich nicht als wichtig erachtet. Im Jahr 2018 wurde die Information, dass sie Abgeordnete ist, ebenfalls in die Akte aufgenommen, und auch hier wurde nichts unternommen.
Als sich die Regierung einzumischen begann, wurde plötzlich eine Geheimhaltungsverfügung über die Akte verhängt. Am gleichen Tag wurde die Akte nach Ankara geschickt, durch die Institutionen gejagt und dem Parlament vorgelegt. Mit anderen Worten: Die Ermittlungsakte wurde dazu benutzt, Semras Immunität aufzuheben. Man dachte wohl, dass man mit dieser Akte nicht viele Leute überzeugen würde könnten, und deshalb wurde eine weitere Akte, die angeblich geheime Zeugenaussagen enthielt, in die parlamentarische Kommission eingebracht.
Was hat es mit diesen „geheimen Zeugen“ auf sich?
Wir alle wissen, dass geheime Zeugen ein Instrument sind, um die Opposition in diesem Land zum Schweigen zu bringen. Es ist allgemein bekannt, dass Menschen nur auf der Grundlage von gefälschten geheimen Zeugenaussagen bestraft werden, wobei alle Regeln des Rechts, die Verfassung und die Entscheidungen des EGMR ignoriert werden. Entweder aufgrund von Folter in Haft oder um einer Bestrafung zu entgehen, werden Menschen gezwungen, vorbereitete Erklärungen zu unterschreiben. Und manchmal gibt es sogar Fälle, in denen der geheime Zeuge, dessen Aussage zu Verurteilung führt, gar nicht existiert.
Auch im Fall von Semra wurde jemand gezwungen, eine unbegründete Aussage gegen sie zu unterschreiben. Ich vermute, dass man dabei allerdings nicht sehr sorgfältig vorgegangen ist, denn die Aussage beinhaltet nichts als eine abstrakte Meinung. Sie ist daher kein Beweis für die Charakterisierung einer Straftat. Außerdem kann eine geheime Zeugenaussage allein kein ausreichender Beweis sein.
Wenn es nicht um wirkliche Gerechtigkeit oder Recht geht, ist die Diskussion über den Inhalt des Verfahrens sinnlos. Die Regierung versucht mit allen Mitteln, sowohl die Gesellschaft als auch unsere Abgeordneten und unsere Partei zum Schweigen zu bringen. Die auf Befehl agierende Justiz ist das am weitesten verbreitete Mittel. In einem normalen Rechtsstaat würden diese Anklagepunkte nicht einmal strafrechtlich verfolgt, geschweige denn jemand dafür verhaftet werden. Und selbst wenn es zu einer Untersuchung oder einem Gerichtsverfahren käme, bliebe das Urteil bis zum Ende der Amtszeit bestehen. Denn die Immunität ist kein Privileg, das den Abgeordneten gewährt wird, sondern ein Schutzschild, das den Wählerwillen widerspiegelt und schützt.
Die inhaftierte Abgeordnete Leyla Güven, deren Mandat ebenfalls rechtswidrig aberkannt wurde, wurde vor kurzem wegen einigen ihrer Reden zu weiteren elf Jahren und sieben Monaten Haft verurteilt. Was sagen Sie dazu?
Wenn wir uns die parlamentarischen Verfahren zur Aufhebung unserer Immunität ansehen, werden wir feststellen, dass sie sich alle auf unsere politischen Aktivitäten und Äußerungen beziehen. Die Reden, die wir halten, die Veranstaltungen, an denen wir teilnehmen, selbst wenn wir nur applaudieren oder der Erklärung schweigend zuhören, werden kriminalisiert. Die Mehrzahl der Verfahren, die mit dem Antrag auf Aufhebung der Immunität an das Parlament geschickt wurden, sind gegen Abgeordnete unserer Partei gerichtet. Die Justiz arbeitet fast ausschließlich gegen uns.
So wurde ein Prozess gegen unsere Abgeordnete Leyla Güven mit demselben Ziel geführt. Sie wurde wegen ihrer politischen Aktivitäten verurteilt. Daraufhin wurde sie verhaftet und ihr Abgeordnetenmandat wurde aufgrund dieser Strafen entzogen. In der Justiz ist kein Fünkchen Unparteilichkeit oder Unabhängigkeit mehr vorhanden. Sie erhält bereits offen Anweisungen und hat nicht das Bedürfnis, dies zu verbergen. Die Justiz, die jede Aussage der Regierung als Befehl interpretiert, verhängt Strafen. Dann flüchten sie sich in die Ausrede, dass es ein Urteil gibt. Dann stellt sich die Regierung hin und sagt, es gebe ein Urteil gegen die Person. Es ist vollkommen klar, dass diese Strafen jeder Rechtsstaatlichkeit widersprechen.
Verfahren, die vor der Wahl zur Abgeordneten geführt worden sind, hätten während der Abgeordnetentätigkeit eingefroren werden müssen. Aber das ist nicht passiert. Damit nicht genug, es war in früheren Perioden auch üblich, mit der Vollstreckung des Urteils bis zum Ende des Mandats zu warten. Das ist ebenfalls nicht geschehen. Mit anderen Worten: Das Gesetz wurde erneut zum Material für politische Interessen. Man hat Leyla Güven im Sinne der politischen Interessen der Regierung ins Visier genommen, man wollte ihr das Abgeordnetenmandat entziehen. Und das taten sie auch, wenn auch nur de facto. Ich sage de facto, da das Mandat von einer Abgeordneter, die vom Volk gewählt wurde und so viele Opfer gebracht hat, nicht durch solche formellen Entscheidungen fallen gelassen werden kann. Es ist das Volk, das kurdische Volk, die Völker der Türkei, die unterdrückten Frauen, die die Entscheidung treffen. Unsere beiden Freundinnen und alle unsere gewählten Kolleginnen und Kollegen repräsentieren unseren Willen und niemand kann dies verhindern.
Die Frauen gehören zu den Kräften, welche das Regime erschüttern. Deshalb werden die Frauen am heftigsten angegriffen. Wir sind mit einer ernsthaften Welle von Angriffen auf unsere Rechte, unser Leben und unsere Arbeit konfrontiert. Das Regime will, dass wir als Frauen auf unsere Wohnungen und Familie reduziert werden und keine Stimme haben. Aber wir Frauen halten nicht den Mund, wir gehorchen nicht und erheben unsere Stimme in allen Lebensbereichen. Einer der Bereiche, in denen wir unsere Stimme erheben, ist das Parlament. Und das können sie nicht dulden. Sie ertragen nicht, dass wir hier sind. Das patriarchale Regime will, dass Frauen nicht an Entscheidungsmechanismen beteiligt sind. Doch egal, was es tut, es kann die Frauen nicht ausschalten. Von Iran bis Rojava, von Amed bis Istanbul, von Europa bis Lateinamerika wächst der Kampf der Frauen für Freiheit.