Schulbeginn in Deutschland: Es fehlen Kurdischlehrer*innen

In Deutschland leben mehr als eine Million Menschen aus Kurdistan, aber nur 2.200 Kinder lernen Kurdisch. In NRW haben sich 1.000 Kinder für Kurdischkurse eingetragen, die jedoch aufgrund des Lehrkräftemangels nicht stattfinden können.

Deutschland ist das Land mit der größten kurdischen Bevölkerung in Europa. In Folge langer Kämpfe wurde das Recht errungen, Kurdisch als Wahlsprache an den Schulen zu lernen. In Anbetracht der Tatsache, dass in Deutschland über eine Million Kurd*innen leben, ist die Förderung des Kurdischunterrichts verschwindend gering.

Der Ko-Vorsitzende der Union der Kurdistan-Lehrer*innen in Europa (YMK) Abdulkadir Ulumaskan berichtet, dass nur 2.200 Schüler*innen in Deutschland an den Schulen Kurdisch lernen. Tausend Schüler*innen in NRW erhalten keinen Unterricht, weil Lehrer*innen fehlen.

In allen Bundesländern, außer Baden-Württemberg und Bayern, hat das neue Schuljahr begonnen. Journalisten der Tageszeitung Yeni Özgür Politika haben sich mit dem Ko-Vorsitzenden der Kurdistan-Lehrer*innen in Europa (YMK) Abdulkadir Ulumaskan getroffen, um über die Lage des Kurdischunterrichts in Deutschland zu sprechen.

Das neue Schuljahr hat begonnen, wie sieht es mit dem Kurdischunterricht an Deutschlands Schulen aus?

Leider gibt es in vielen europäischen Ländern keinen Kurdischunterricht. Wenn wir uns die europäischen Staaten anschauen, so kann ich sagen, dass man allein in Schweden die Situation als gut bezeichnen kann. In Schweden gibt es 200 Lehrkräfte und 12.000 Schüler*innen.

Aber wie ist die Situation in Deutschland? In Deutschland leben ja mehr Kurd*innen als in Schweden …

Im Moment unterrichten nur in drei Bundesländern (NRW, Niedersachsen und Bremen) an 50 Schulen, Lehrer*innen im öffentlichen Auftrag. In ganz Deutschland gibt es im Moment etwa 2.200 Kurdischschüler*innen. In Schweden leben 80.000 Kurd*innen, es gibt 200 Lehrkräfte und 12.000 Schüler*innen. Das Bild wird durch diesen Vergleich recht deutlich. Ich gehe davon aus, dass wir die Ursachen dafür in den nächsten Tagen tiefer gehend diskutieren werden.

In Deutschland werden bald nach den Sommerferien alle Schulen wieder geöffnet sein. Erwarten Sie einen Anstieg der Zahl der Schüler*innen in den Kurdischkursen?

Wenn wir die letzten beiden Jahre betrachten, dann können wir von einem Anstieg der Schüler*innen sprechen. Insbesondere mit den Menschen, die aus Rojava kamen, stieg die Zahl der Schüler*innen. Bisher haben sich allein in NRW 1.000 Schüler*innen für Kurdischkurse registriert. Aber da es keine Lehrer*innen gibt, können sie nicht unterrichtet werden. Auf jede Lehrkraft kommen 150–200 Schüler*innen. Außerdem wurden die Wochenstunden gekürzt. Diese Situation beeinflusst unsere Möglichkeiten, einen produktiven Unterricht durchzuführen.

Warum wurden ihrer Meinung nach die Wochenstunden gekürzt?

So sehr es in Deutschland auch vorgesehen ist Kurdisch zu unterrichten, so viele Hindernisse dafür werden geschaffen. Das wir unser Recht nicht nutzen können, behindert die Familien, die Lehrkräfte und unsere Institutionen. Leider gibt es in dieser Hinsicht auch bei uns Fehler und eine gewisse Gleichgültigkeit. Die Familien übernehmen keine Verantwortung für unsere Institutionen und Organisationen. Dieses Desinteresse spielt den deutschen Verantwortlichen in die Hände.

Warum gibt es keine Kurdisch-Lehrkräfte?

Natürlich arbeiten wir als YMK daran den Lehrkräftemangel zu überwinden. Seit drei Jahren haben wir ein Projekt zu Etablierung der Ausbildung von Lehrkräften an der Universität in Essen. Obwohl die Universität den Studiengang akzeptiert hat, verweigert das Bildungsministerium von NRW die Genehmigung. Trotz all unseres Einsatzes haben wir bisher keine Antwort erhalten. Aber es gibt an fast allen Universitäten Kurse zur Ausbildung von Türkisch-Lehrkräften. Wir haben unsere Projekte auch in Frankreich eingereicht und warten auf eine Antwort der Universität. Wir hoffen, dass dieses Problem gelöst wird.

Ist die deutsche Politik das einzige Problem? Was ist die Verantwortung der Kurd*innen und der kurdischen Institutionen für diese Situation?

Der deutsche Staat behindert uns. In der Vergangenheit haben wir als Kurd*innen nicht genug darauf bestanden, unser Recht auf Kurdisch-Unterricht zu nutzen. Als YMK haben wir 60–70 Mitglieder. Jedes unserer Mitglieder zahlt 5–10 Euro monatlich. Was können wir mit diesen ökonomischen Möglichkeiten machen? Mit diesen Mitteln können wir keinen Kurdisch-Lehrstuhl an der Universität einrichten. Aber mit unseren Institutionen, unseren Organisationen gemeinsam könnten wir keinen Lehrstuhl sondern eine ganze Universität eröffnen. Aber es wird nicht getan. Das Problem mit Kurdisch in Europa ist nicht nur ein Problem der Vereine. Die Vereine allein können das nicht stemmen. Es ist eine Sache, die ein Ministerium benötigt. Aber wir haben keines. Jedes Jahr finden viele Kampagnen statt. Wenn man mal eine Kampagne für die kurdische Sprache machen würde, wie wäre das? Das würde unsere Arbeit sehr erleichtern.

Die Einschreibungen für Kurdischkurse sind auch nicht auf dem gewünschten Niveau, woran liegt das?

Das gleiche Problem gibt es auch bei den Anmeldungen. Wir wenden uns mit diesem Thema an unsere Institutionen, aber es gibt keine Resonanz. Sie sagen jedes Jahr „Wir beginnen mit einer Kurdisch-Kampagne“. Aber es vergehen die Jahre, es werden Dutzende Kampagnen gemacht, aber dennoch kommt Kurdisch einfach nicht dran. Wir erfüllen unsere Aufgabe nicht gut, hoffen aber auf Hilfe von anderen Staaten. So haben wir als YMK mit unseren beschränkten Möglichkeiten 25 Bücher für Kurdischkurse geschrieben und gedruckt. Kein einziger unserer Vereine und Institutionen hat uns bei den Büchern auch nur geholfen.

Wie gehen die Familien mit dem Thema um?

Die Gleichgültigkeit der Familien ist noch ein weiteres Problem. Wir können uns nicht stark darum bemühen dagegen anzugehen. Eigentlich können wir es gar nicht. Leider ist das Verhältnis zum Kurdischen im Allgemeinen nicht gut. Vor unseren Augen verschwinden unsere Kinder und unsere Jugend. Wenn ein Mensch seine Sprache verliert, dann verliert er sein Leben und seine Gefühle. Das darf nicht das Schicksal der Kurd*innen sein.

Was muss getan werden, um die aktuelle Situation der Kurdischkurse zu verändern?

Wenn wir an das Beispiel Schweden denken, dann müssten hier 300.000 Kinder in den Kurdisch-Unterricht gehen. In Deutschland sind es aber nur 2.200. So sieht es aus. Wenn wir die nach dieser Rechnung mehr als 300.000 Jugendlichen und Kinder aufgeben und sie nicht am Kurdisch-Unterricht teilnehmen, dann werden sie sich leider von ihren Identitäten entfernen. Es gibt jetzt schon viele, die mehr deutsch sind. Wenn unsere Jugendlichen uns in Zukunft Fragen „Wer bin ich?“, wer kann das auf sich nehmen? Das ist ein Massaker. Die Verantwortlichen dafür sind unsere Familien, uns selbst eingeschlossen und unsere Institutionen und unsere Politik.

Was sollte man tun, um sich in die Kurdisch-Kurse einzuschreiben?

Diejenigen die wollen, dass ihre Kinder Kurdisch lernen, hätten sich bis vergangenen April einschreiben müssen. Für die zweite Periode laufen die Einschreibungen bis Oktober.

YENI ÖZGÜR POLITIKA | MURAT MANG