Der Countdown für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei am 14. Mai hat begonnen. Die Demokratische Partei der Völker (HDP), die kurz vor einem Verbot steht, ist mit ihrer Wahlstrategie ein bestimmender Faktor für die Zukunft des Landes. Das von der HDP angeführte Bündnis für Arbeit und Freiheit unterstützt bei den Parlamentswahlen die Grüne Linkspartei (YSP) und bei den Präsidentschaftswahlen aus strategischen Gründen den CHP-Kandidaten Kemal Kılıçdaroğlu.
Der Ko-Vorsitzende der HDP, Mithat Sancar, begründet diese Wahlstrategie so: „Wenn wir als HDP angetreten wären und die Schließung vor den Wahlen beschlossen worden wäre, wären all unsere Stimmen vergeudet worden. Als der Wahltermin offiziell bekannt gegeben wurde, befand sich das Schließungsverfahren in der Schwebe. Wir sind dieses Risiko nicht eingegangen und treten mit der Grünen Linkspartei zu den Wahlen an. Entsprechende Vorbereitungen hatten wir bereits vorher getroffen und angekündigt."
Die Regierung habe die Absicht verfolgt, mit dem Verbot der HDP alle Möglichkeiten der demokratischen Politik zu beseitigen, erklärt Sancar: „Wir haben dieses Kalkül durchkreuzt. Wir haben eine Schlüsselrolle sowohl bei der Festlegung der Wahlergebnisse als auch bei den Prozessen nach den Wahlen. Wir sagen, dass mit dem 100. Jahrestag der Gründung der Republik Türkei eine neue Ära beginnen muss, und wir wollen der entscheidende Akteur beim Aufbau einer demokratischen Republik sein. Der AKP/MHP-Block wollte unsere Teilnahme an den Wahlen verhindern, aber wir haben dieses Kalkül mit unserer Arbeit und der von uns formulierten Politik durchkreuzt.“
Ende des Ein-Mann-Regimes
Zu der Strategie, keinen Präsidentschaftskandidaten aufzustellen, erläutert Sancar: „Wir haben getrennte Strategien für die Präsidentschafts- und die Parlamentswahlen festgelegt. Unser Ziel bei den Präsidentschaftswahlen ist es, dem Ein-Mann-Regime ein Ende zu setzen. Bei den Parlamentswahlen wollen wir die höchste Repräsentanz erreichen, um eine entscheidende Rolle in der nächsten Legislaturperiode zu übernehmen. Wir haben verschiedene Etappen durchlaufen und sind nach dem Erdbeben zu dem Entschluss gekommen, keinen Kandidaten aufzustellen. Diese Haltung haben wir nach Beratungen sowohl mit unseren Bündnispartnern als auch mit anderen demokratischen Kreisen festgelegt. Kemal Kılıçdaroğlu stattete uns einen Besuch ab, und diesen Schritt haben wir gemeinsam mit unserem Bündnis und unseren Organisationen bewertet. Bei den Präsidentschaftswahlen ist unsere Position klar: Wir unterstützen Kemal Kılıçdaroğlu."
„Ohne uns kann kein Gleichgewicht gebildet werden“
Sancar betont das Ziel, mit möglichst vielen Abgeordneten der Grünen Linkspartei ins Parlament zu ziehen: „Das ist keine numerische Frage, sondern der Ausdruck eines politischen Ziels. Das politische Ziel besteht darin, eine Ausgangslage, in dem Gleichgewichte nicht ohne uns hergestellt werden können. Wir sehen uns als die wichtigste Kraft, die den Weg für eine Demokratisierung und eine demokratische Republik ebnen kann. Natürlich ist es wichtig, der Ein-Mann-Herrschaft ein Ende zu setzen. Das ist unser strategisches Ziel. Wir haben auch unmissverständlich erklärt, dass wir Kemal Kılıçdaroğlu bei seiner Wahl unterstützen. Das bringen wir bei jeder Gelegenheit zum Ausdruck, aber wir sind nicht so naiv zu glauben, dass unsere politischen Ziele mit dem Abgang von Erdoğan und dem Sieg von Kılıçdaroğlu verwirklicht werden."
„Eine Demokratisierung ist nur möglich, wenn wir stark sind“
„Eine Demokratisierung, eine demokratische Lösung der kurdischen Frage, wirkliche Gerechtigkeit und dauerhafter Frieden sind nur möglich, wenn wir stark sind", sagt Sancar: „Wenn wir eine demokratische Zukunft wollen, eine Ordnung, die auf Gerechtigkeit, Frieden und den Rechten der Werktätigen basiert, müssen wir die Grüne Linkspartei unterstützen. Sehen wir die Partei der Grünen Linken als unsere Garantie und schicken wir sie mit der höchsten Vertretung ins Parlament. Bringen wir den Willen zum Ausdruck, dass die Präsidentschaftswahlen im ersten Wahlgang abgeschlossen werden. Ein weiterer Aspekt ist die Wahlsicherheit, der Schutz der Wahlurnen und die Verteidigung unseres Willens. Hierfür haben wir uns demokratische Entschlossenheit und demokratische Reife auf die Fahnen geschrieben. Selbst wenn es zu Provokationen kommt, werden wir mit demokratischer Entschlossenheit und demokratischer Reife dagegen vorgehen. Wir erwarten von allen Oppositionsparteien, dass sie die gleiche Haltung einnehmen. Wir erwarten, dass alle Menschen, die Demokratie in der Türkei wollen, die ein wenig aufatmen wollen, mit dem gleichen Willen zusammenkommen. Ich glaube, dass dies der Fall sein wird. Egal, wie sehr die Regierung Angstszenarien schafft und in verschiedenen Teilen der Gesellschaft Besorgnis erregt, es gibt in diesem Land die Macht, sie zu entkräften. Solange wir es richtig handhaben, werden diese Wahlen wirklich ein Wendepunkt sein. Die Wahlergebnisse werden den Beginn einer neuen Ära in der Türkei ermöglichen."
Der Wille des Volkes setzt sich durch
Mit Blick auf Provokationen in den sozialen Medien, die darauf abzielen, ein Klima der Angst zu schaffen, erklärt Sancar: „Es gibt keine Macht, die dem Willen des Volkes überlegen ist. Der Grund, warum all diese Gerüchte in die Welt gesetzt werden, ist, den Wahlkampf der Opposition zu verhindern, das Selbstvertrauen der Menschen zu erschüttern und sie in Angst zu versetzen. Die Regierung selbst betreibt diese Propaganda hinterhältig und indirekt. Ein solches Szenario ist in diesem Land nicht realisierbar. Wenn alle Oppositionsparteien und demokratischen Kreise, alle Menschen, die aufatmen wollen, mit demokratischer Entschlossenheit und Reife handeln, werden wir alle Arten von schlechten, negativen und schmutzigen Szenarien vereiteln können."