Rechtsanwalt Şahin fordert Verständigung mit Öcalan

Muharrem Şahin hat Abdullah Öcalan früher im Gefängnis besucht. Sollte es im Mai einen Regierungswechsel in der Türkei geben, müsse für eine Lösung der bestehenden Probleme eine Verständigung mit dem kurdischen Vordenker erfolgen, fordert der Anwalt.

Rechtsanwalt Muharrem Şahin hat in der Vergangenheit mehrfach Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali besucht. Gegenüber ANF hat sich der Jurist in Amed (tr. Diyarbakir) zu der Rolle geäußert, die der seit 1999 inhaftierte kurdische Vordenker Wahlen und der demokratischen Politik zuweist:

„Herr Öcalan geht davon aus, dass es kein Problem gibt, das nicht gelöst werden kann, und er lebt auch so. Er legt großen Wert auf die demokratische Politik und schätzt sie sehr hoch ein. Wenn wir uns die bevorstehenden Wahlen ansehen, dann ist das eine Wahl, die den Gründungsjahren der Türkei entspricht. Die Zukunft dieses Landes wird neu definiert werden. Es besteht die Möglichkeit eines Regimewechsels, und alle sollten in dieser Hinsicht Sensibilität zeigen. Wenn während dieses Prozesses Gespräche mit Herrn Öcalan geführt werden, wird dies meiner Meinung nach zu einer Minderung der gesellschaftlichen Spaltung und zum Abbau der momentan wachsenden Spannungen beitragen."

Es reicht, das Gesetz anzuwenden

Im Falle einer Ablösung des AKP/MHP-Regimes durch eine neue Regierung müsse die Isolation so schnell wie möglich aufgehoben werden, fordert Şahin: „Es genügt uns, wenn die neue Regierung einfach nur das bestehende Gesetz anwendet. Das Gesetz besagt, dass es kein Hindernis für Gespräche [mit Öcalan] gibt und Kontaktmöglichkeiten verpflichtend sind. Das momentane Verfahren ist rechtswidrig, es handelt sich um eine Straftat. Die neue Regierung sollte diese Straftat nicht begehen."

Solange die neue Regierung aufrichtig ist

Rechtsanwalt Şahin erinnert daran, dass Abdullah Öcalan wiederholt Waffenstillstände erklärt und wichtige Schritte für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage unternommen hat: „Wir haben alle gesehen, dass dieses Problem mit der gegenwärtigen Sicherheitspolitik nicht gelöst wurde. Deshalb können wir sagen, dass das neue System, das an die Macht kommen wird, eine leichte Aufgabe haben wird, um eine Lösung der kurdischen Frage in den wichtigsten Punkten zu gewährleisten. Vorausgesetzt, sie sind aufrichtig in ihren Absichten. Dafür gibt es Bedingungen. Das Problem ist mit dem bisherigen Ansatz nicht gelöst worden. Heute ist der Zustand von Wirtschaft, Justiz und Politik offensichtlich. Die Menschen können sich kein Brot mehr leisten. Wir wissen, dass die Lösung all dieser Probleme in der Lösung der kurdischen Frage liegt. Wenn es zu einer Verständigung mit Herrn Öcalan über diese Fragen kommt, werden wir alle sehen, dass all diese Probleme gelöst werden können."

Rechtsanwalt Muharrem Şahin

Hintergrund: Abdullah Öcalan ist eine Schlüsselfigur

Abdullah Öcalan, geboren am 4. April 1949, studierte Politikwissenschaften in Ankara. Er initiierte 1978 die Gründung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und führte als ihr Vorsitzender bis zu seiner Verschleppung im Februar 1999 den kurdischen Befreiungskampf aktiv an.

Neben zahlreichen Arbeiten über die Kultur und die Lage seines Volkes beschäftigte er sich in vielen Vorträgen und Büchern mit Themen aus den Bereichen Philosophie, Religion, Geschlechterfragen und Umweltproblematik und setzte sich immer wieder für ein friedliches Zusammenleben aller Völker im Mittleren Osten ein.

Seit seiner völkerrechtswidrigen Entführung aus Kenia am 15. Februar 1999 befindet er sich in einem Gefängnis auf der türkischen Insel Imrali im Marmarameer, mehr als zehn Jahre davon als einziger Gefangener. Am 29. Juni 1999 wurde er vom türkischen Staatssicherheitsgerichtshof zum Tode verurteilt. Inzwischen wurde die Todesstrafe in der Türkei abgeschafft und das Urteil gegen Abdullah Öcalan in eine verschärfte lebenslängliche Freiheitsstrafe umgewandelt.

Trotz der unmenschlichen Isolationshaft setzt er sich auch aus der Haft heraus im Rahmen seiner Möglichkeiten für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage ein. Er gilt weiterhin als führender Stratege und einer der wichtigsten politischen Repräsentanten des kurdischen Volkes .

In Isolationshaft auf der Insel Imrali verfasste Öcalan mehr als zehn Bücher, welche die kurdische Politik revolutionierten. Mehrfach initiierte er einseitige Waffenstillstände der Guerilla und lieferte konstruktive Vorschläge für eine politische Lösung der kurdischen Frage. Seine Konzepte wie der „demokratische Konföderalismus“ sind eine wesentliche Inspiration für das revolutionär-demokratische Projekt in Nordsyrien.

Ein „Friedensprozess“ begann 2009, als der türkische Staat auf Öcalans Aufrufe, die kurdische Frage politisch zu lösen, reagierte. Die Regierung brach den Dialog mit Öcalan und der PKK Mitte 2015 ab und setzt seither wieder auf eine militärische Vernichtungspolitik.

Seit dem 27. Juli 2011 wird Öcalan und seinen Mitgefangenen der Zugang zu Anwältinnen und Anwälten verwehrt. Eine Ausnahme bilden mehrere Anwaltsbesuche zwischen Mai und August 2019, die durch einen Massenhungerstreik erkämpft wurden.

Seit April 2015 ist die Gefängnisinsel Imrali vollständig von der Außenwelt isoliert. Keinerlei Besuch ist möglich, es gibt keine Kommunikation mit den Gefangenen. Das letzte Lebenszeichen war ein aus unbekannten Gründen nach wenigen Minuten unterbrochenes Telefonat zwischen Öcalan und seinem Bruder im März 2021.