Şahin: „Abdullah Öcalan warnte vor Ausbreitung der Isolation“

Muharrem Şahin hat 2011 als Anwalt an Gesprächen mit Abdullah Öcalan teilgenommen. Er berichtet, Öcalan habe damals bereits gewarnt, dass die Isolation nicht auf Imrali beschränkt bleiben werde.

Der kurdische Repräsentant Abdullah Öcalan ist seit fast 22 Jahren auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftiert. Öcalan ist die meiste Zeit in absoluter Isolation. Entsprechend der politischen Konjunktur werden Anwaltsbesuche teilweise jahrelang ausgesetzt. Einer der Anwälte, der 2011 an Gesprächen mit Abdullah Öcalan beteiligt war, ist Muharrem Şahin.

Öcalan: „Es gibt wichtigere Probleme als mich“

Vor dem Hintergrund des seit dem 27. November stattfindenden unbefristeten Hungerstreiks der Gefangenen aus der PKK und PAJK sowie weiterer politischer Gefangener für die Aufhebung der Isolation Öcalans teilte der Anwalt im ANF-Gespräch seine Erinnerungen an seine Besuche auf Imrali und erzählte, Öcalan habe sich niemals selbst in den Vordergrund gestellt und immer wieder darauf hingewiesen, dass die Isolation, abgesehen vom Fehlen des dringendsten und lebensnotwendigsten Bedarfs, kein Problem darstelle. „Ich mag zwar physisch im Gefängnis sein, aber geistig bin ich es nicht“, habe Öcalan damals erklärt und betont: „Ich bin keine Priorität, es gibt wichtigere Probleme als mich.“

Öcalan wies auf die Folgen der Isolation auf Imrali hin

Der Anwalt berichtet: „Er erzählte nur sehr wenig über die schwierigen Bedingungen dort. Dabei ging es darum, dass ihm die Haare mit Gewalt geschnitten und der Hofgang verboten wurde. Er hatte immer gewarnt, dass die Isolation nicht auf ihn beschränkt bleiben würde. Er betonte, die Isolation werde ins Chaos führen. Bei früheren Gesprächen hatte er auch gewarnt, dass die Fortsetzung der Isolation den gesamten Mittleren Osten ins Chaos stürzen werde. In seiner Verteidigung von 2006 hatte er schon darauf hingewiesen, dass in Syrien, Rojava, dem Irak und dem Iran Chaos ausbrechen werde. Tatsächlich hat er immer auf die Folgen der Isolation für die Außenwelt hingewiesen.“

Was er damals sagte, erleben wir heute“

Şahin fährt fort: „Bevor Herr Öcalan nach Imrali gebracht wurde, gab es politische Verbindungen zu den Staaten der Region. Er konnte schon damals die Anzeichen des bevorstehenden Chaos in der Region lesen. Deswegen brachte er auch noch unter Isolationshaftbedingungen Vorschläge ein, wie diese Situation abgewendet werden könnte. Seine Lösungsvorschläge für die Türkei sind auch für andere Länder der Region wie Syrien und den Irak gültig. Er hatte bereits 2006 gewarnt: ‚Wenn diese Lösungsvorschlägen nicht umgesetzt werden, dann können große Katastrophen daraus folgen.‘ Vor allem das, was er über Syrien gesagt hat, erleben wir genau auf diese Weise. Wir können alles, was er vorhergesehen hat, nun beobachten.“

Der Staat akzeptierte die Lösungsvorschläge nicht“

Zu den Lösungsvorschlägen Öcalans sagt der Anwalt: „Die ausbleibende Umsetzung seiner Lösungsvorschläge ist ausschließlich auf die Wahrung der machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen zurückzuführen. Die meisten Kurden hielten sich an die von Herrn Öcalan vorgelegten Lösungsprojekte. Die von ihm angeführte Organisation hielt sich ebenfalls daran. Für den Staat waren es sehr einfach zu realisierende Lösungsprojekte. Der Staat tat dies jedoch nicht, denn Strukturen, die von dem Ausbleiben einer Lösung profitieren, verhinderten eine Umsetzung. Der Staat konnte den Lösungsprozess nicht umsetzen, weil er seine tiefen inneren Widersprüche nicht überwinden konnte. Es herrschte damals auch ein politisches Klima, das niemandem nützte.“

Jetzt sind Treffen auf Imrali besonders wichtig

Gerade in der aktuellen Phase seien Treffen mit Öcalan von besonders großer Bedeutung, sagt Şahin und fährt fort: „Wir haben diese Bedeutung bereits im Friedensprozess gesehen. Jetzt ist genau so ein Prozess notwendig. Es geht hier nicht mehr um einen Konflikt zwischen der Regierung und einer Partei, es betrifft alle, die in der Türkei leben. Öcalan bringt die am einfachsten umzusetzenden Lösungsvorschläge ein. Im vorherigen Friedensprozess verbreitete sich Frieden und Wohlstand zumindest in der Gesellschaft. Die Gesellschaft braucht das jetzt dringend, ansonsten bedeutet es, dass es keine Demokratie, keine Gerechtigkeit und kein Recht gibt.“