Şebnem Korur Fincancı: Widerstand ist ein Recht

Die Vorsitzende der Menschenrechtsstiftung TIHV und hessische Friedenspreisträgerin Şebnem Korur Fincancı fordert, dass der Widerstand in der Türkei und die Solidarität gegen Krieg und Einschüchterungspolitik verstärkt werden müssen.

In einem Interview mit ANF hat sich Prof. Dr. Şebnem Korur Fincancı, Generalvorsitzende der Menschenrechtsstiftung in der Türkei (TIHV), über die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte in dem Land geäußert. Fincancı, eine international führende Expertin zur Folterdokumentation und hessische Friedenspreisträgerin, beschreibt die Situation in der Türkei als dramatisch. Das Demonstrationsrecht werde negiert, gewählte Politiker*innen durch Regimebeamte ersetzt. Jede Person, die sich kritisch äußert, werde mit Gefängnis bedroht und die Gewalt gegen Frauen und Kinder nehme zu. Von einem demokratischen Land könne keine Rede mehr sein.

Inhaftierungsdrohung betrifft alle

Die verbreitetste Rechtsverletzung stelle die Bedrohung mit Inhaftierung dar, betont die Ärztin. Menschen, die auf die Straße gehen und friedlich ihre Meinung kundzutun versuchen, werden unter Gewaltanwendung und auch Folter festgenommen. Wenn es so weitergehe, gebe es in diesem Land niemanden mehr, der nicht festgenommen oder inhaftiert wurde. „Wir befinden uns in einem Prozess der rapiden Verschlechterung. Jedes Jahr lösen sich etwa 200.000 Menschen im Gefängnis ab. Das zeigt, wie breit diese Verhaftungen angelegt sind. Deswegen steht für mich die Bedrohung mit Inhaftierung an erster Stelle der Rechtsverletzungen“, erklärt Fincancı.

Deutlicher Anstieg der Männergewalt

Der Anstieg der Männergewalt in der Türkei stehe mit der politischen Situation in Verbindung. Fincancı ruft in Erinnerung: „Während des Dialogprozesses (zwischen der Regierung und der PKK, Anm. d. Red.), als die Waffen schwiegen und sich ein friedliches Klima entwickelte, nahm die Männergewalt gegen Frauen ab und die Zahl der Frauenmorde sank unter 200. Aber heute liegt sie erneut bei 300.“ Nach Angaben der Plattform Kadın Cinayetlerini Durduracağız (Wir werden Frauenmorde stoppen) liegt diese Zahl sogar bei 408. Fincancı bemerkt: „Eigentlich müssten diese Statistiken doch von der Statistischen Behörde (TÜIK) kommen. Sie müssten von ihr geprüft und komplettiert werden. Da die Einrichtungen in einen praktisch nicht mehr arbeitsfähigen Zustand versetzt wurden, ist es auch nicht möglich, sichere Zahlen zu erhalten.“ Die Menschenrechtlerin betont, dass die Zunahme der Gewalt gegen Frauen in einem Klima der Gewalt und des Unrechts unvermeidbar ist.

Es gibt keine Spur von Demokratie

Die Einsetzung von Zwangsverwaltern in HDP-geführten Rathäusern sei ein entscheidender Faktor für dieses Gewaltklima, meint Fincanı. „Wir wissen ganz genau, dass in diesem Land, in dem so getan wird, als gäbe es Demokratie, nicht einmal das ‚D‘ von Demokratie vorhanden ist. Seit 2015 erleben wir die Einsetzung von Zwangsverwaltern. Erst wurden die kurdischen Städte angegriffen, anschließend, mit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016, wurden die Ko-Bürgermeister*innen aus dem Amt entfernt, eingesperrt und an ihrer Stelle Zwangsverwalter ernannt. Daher ist es nicht möglich, von Demokratie zu sprechen“, so Fincancı.

Religiöse Stiftungen in jedem Ministerium gestärkt

Niemals sei die Situation in der Türkei so schlimm gewesen, wie unter der Herrschaft der AKP, fährt Fincancı fort. „1920 gab es ein pluralistisches Parlament. Die Verfassung von 1921 strebte ebenfalls den Pluralismus an. Daher haben wir mit einer Situation begonnen, die eine demokratischere Basis der Republik zeigt, auf diese Weise bildeten sich auch die Institutionen heraus. Aber mittlerweile kann man gar nicht mehr von Institutionalisierung sprechen, wir leben in einem von einem Familienclan beherrschten Staat. Es gibt religiöse Stiftungen und die haben in jedem Ministerium an Macht gewonnen. Es findet keine Institutionalisierung, sondern ein kompletter Neuaufbau des Staates statt.“

Das AKP-System dient nur den Herrschenden

Im von der AKP gewünschten System gibt es keinen Platz für Menschen, Arbeiter*innen, jeden der um sein Überleben kämpft, sagt Fincancı und weist auf die kontinuierlich zunehmende Ausbeutung hin. Diese Verhältnisse werden an der Flexibilisierung der Arbeitsbedingung ebenso deutlich, wie an der Zunahme von Gewalt gegen Frauen und Kinder zu Hause. Fincanı betont, dieses System nutze allein den Waffenhändlern, den Konzernen und den Herrschenden.

Alle Unterdrückten müssen sich vereinen!

Diese Negativentwicklung könne nur durch den Zusammenschluss aller Unterdrückten gestoppt werden, glaubt Fincancı. „Wir sagen seit Jahren, dass sich die Unterdrückten vereinen müssen. Das, was den Unterdrückten fehlt, ist die Solidarität, wenn sich die Unterdrückten nicht zusammenschließen und nicht zusammen kämpfen, kann es keine Änderung gegeben. Die Erklärung der Menschenrechte besagt es, wenn es Staaten gibt, die Menschenrechtsverletzungen befördern, dann gibt es auch das Recht zum Widerstand. Deshalb müssen Widerstand und Solidarität wachsen. Sollen sie sagen, was sie wollen, eigentlich sind wir die Mehrheit und wir sind stärker. Es gibt eine Einschüchterungspolitik. Diese Furcht muss überwunden werden, denn die Feiglinge sterben schon tausendmal vor ihrem Tod und Mut ist ansteckend. Wir müssen mutig denen entgegenstehen, die uns einzuschüchtern versuchen.“