Knapp zwei Wochen sind vergangen, seit der Versuch der türkischen Armee, sich dauerhaft im südkurdischen Gare festzusetzen, von der Guerilla vereitelt worden ist. Doch angesichts der Vorwürfe der HPG, wonach die Türkei bei ihrer Besatzungsoperation chemische Kampfstoffe im Gefangenenlager Siyanê eingesetzt hat, herrscht international immer noch Ruhe. Und dass, obwohl der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar in einer Sondersitzung des Parlaments zumindest den Einsatz von Tränengas einräumte.
Bei dem Angriff auf das Guerillagebiet Gare, den die Regierung in Ankara weiterhin als misslungene Befreiungsaktion verkauft, waren dreizehn Kriegsgefangene der PKK, darunter zwölf türkische Staatsbedienstete, ums Leben gekommen. Die Türkei behauptet, die Männer seien im Gefangenenlager von der kurdischen Arbeiterpartei exekutiert worden, diese weist die Vorwürfe strikt zurück. Inzwischen hat sich Murat Karayilan als Oberkommandierender der HPG und Mitglied im PKK-Exekutivkomitee an die Öffentlichkeit gewandt und die Entsendung einer unabhängigen Untersuchungskommission nach Gare vorgeschlagen. Der Geruch von chemischen Kampfstoffen sei noch nicht verflogen, die Leichname der dort gefallenen Kämpfer könnten deshalb nicht evakuiert werden, sagte Karayilan am Montag in einer Sondersendung bei Stêrk TV. Zudem bot er Hautproben von den Gefallenen zur Untersuchung an.
ANF hat bei der Niedersachsener Ärztin und Friedensaktivistin Dr. Gisela Penteker von der Organisation IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V.) nachgefragt, ob sie im Besitz von Informationen über chemische Waffen bei der türkischen Armee ist. „Mir ist Derartiges nicht bekannt. Ich halte es allerdings für möglich, obwohl das im Rahmen der Nato eigentlich nicht sein dürfte”, so Penteker. Aus der Erfahrung mit früheren Anzeigen von Giftgaseinsätzen wie beispielsweise in Syrien wisse sie aber, wie schwierig der Nachweis vor Ort zu erbringen sei. „Aus den vorgelegten Fotos lässt sich ein Einsatz meist nur vermuten. Selbst wenn die Experten der UNO vor Ort recherchieren, gibt es nur ein politisches Ergebnis, das mit der Realität nichts zu tun hat”, sagt die Ärztin.
Gisela Penteker fährt seit Jahren zu Delegationsreisen nach Kurdistan, Nordsyrien und in den Irak. Sie verfügt über ein aktuelles, fundiertes Bild von der gesellschaftspolitischen Situation in der Region, der gesundheitlichen Lage der Flüchtlinge und den Hintergründen der gegenwärtigen humanitären Versorgungsstruktur. „Dieser unsägliche Krieg der Türkei gegen die Kurden sowohl in der Türkei als auch in Syrien und dem Irak ist in mehrfacher Hinsicht völkerrechtswidrig, auch ohne den Einsatz von Chemiewaffen“, sagt Penteker. Die „sogenannte westliche Wertegemeinschaft“ mache sich durch ihre Komplizenschaft „mitschuldig“, kritisiert die Ärztin.
OPCW verweigert Antwort auf Anfrage
Auf eine Anfrage von ANF bei der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) zu Maßnahmen für eine Untersuchung der Berichte über den Einsatz von verbotenen Waffen durch die türkische Armee in Gare wurde bislang nicht reagiert. Verwunderlich ist das im Grunde nicht, hatte die OPCW doch im Herbst 2019 eine Untersuchung der Chemiewaffeneinsätze im türkischen Angriffskrieg gegen Serêkaniyê/Rojava im Herbst 2019 aufgrund fehlenden Mandats abgelehnt, nachdem sie eine Spende über 30.000 Euro von der Türkei erhalten hatte. Der Einsatz von toxischen Chemikalien als Waffe ist ein Kriegsverbrechen. In Serêkaniyê und Girê Spî hatte die türkische Armee zusammen mit verbündeten Dschihadistenmilizen nachweislich weißen Phosphor eingesetzt.