Die Friedensinitiative Project Ploughshares wirft der Regierung in Kanada vor, mit Ausfuhrgenehmigungen von taktischen Überwachungssystemen für die Türkei gegen das internationale Waffenhandelsabkommen ATT zu verstoßen. Der Export von technologischer Ausstattung für türkische Killerdrohnen stehe in direktem Widerspruch zu den in Kanada geltenden innerstaatlichen Gesetzen und sonstigen waffenrechtlichen Vorschriften sowie internationalen Verpflichtungen. Außerdem stelle der Verkauf ein erhebliches Risiko dar, menschliches Leid, einschließlich Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts, in den Konfliktzonen des Nahen Ostens und Libyens zu erleichtern. Das geht aus einem Bericht hervor, den die in Waterloo sitzende Organisation vergangene Woche veröffentlicht hat.
Das Arms Trade Treaty (ATT) wurde im Dezember 2014 unter dem Dach des Büros für Abrüstungsfragen der Vereinten Nationen verhandelt. Mit der Ratifizierung des Abkommens verpflichtet sich das Beitrittsland zu einer rigorosen Prüfung, ob ein Militärexport für eine „gravierende Verletzung des internationalen Menschenrechts oder des internationalen Kriegsrechts“ genutzt werden könnte. Das ATT setzt damit auf internationaler Ebene völkerrechtlich verbindliche Standards bei der Regelung und der Kontrolle des internationalen Handels mit konventionellen Waffen. Kanada war im September 2019 der letzte NATO-Staat, der den Vertrag unterzeichnete.
In dem Bericht von Project Ploughshares geht es konkret um den Export von elektrooptischen/infraroten Kamerasystemen mit Sensortechniken von L3Harris WESCAM, der kanadischen Tochtergesellschaft des US-Rüstungsriesen L3Harris. Der Konzern ist einer der weltweit führenden Hersteller und Exporteure von Elektro-Optik- und Infrarotkameras, der wichtigsten technologischen Ausstattung von bewaffneten und unbewaffneten Drohnen, mit einem jährlichen Exportvolumen von ca. 500 Millionen CAD. Die Türkei gehört seit inzwischen drei Jahren zu den Hauptabnehmern von elektrooptischen Kamerasystemen der kanadischen L3Harris WESCAM. Die Firmen Bayraktar und TAI, die Drohnen für das Erdogan-Regime herstellen, benutzen sie zur Aufklärung, Überwachung und Zielerfassung. Die Kameraelemente aus kanadischer Produktion senden synchronisierte Aufnahmen an den Autopilot der Drohne und gewährleisten eine automatische Verfolgung des von der Kamera anvisierten Ziels.
Auf Bitten Erdogans: Kanada lockert Waffenembargo
Zwar hatte Kanada im Oktober 2019 als Reaktion auf die völkerrechtswidrige Invasion der Türkei und ihrer dschihadistischen Verbündeten in Nordsyrien gemeinsam mit Deutschland, Frankreich und Großbritannien ein Rüstungsembargo gegen das Regime in Ankara verhängt, weil man sonst Gefahr laufen würde, „die Stabilität einer ohnehin fragilen Region zu untergraben, die humanitäre Lage zu verschlimmern und die von der Internationalen Koalition gegen den IS erzielten Fortschritte zunichte zu machen”. Auch wurde das Waffenembargo im April auf unbestimmte Zeit verlängert – das proaktive Einfrieren der Ausfuhrgenehmigungen für die Türkei wurde sogar als positives Beispiel für Kanadas gut funktionierende Rüstungsexportkontrolle gewertet. Das ließ in Ankara allerdings die Alarmglocken schrillen. Bereits im Mai gab Kanada dem Druck türkischer Regierungsverantwortlicher nach, die eine Ausnahme aushandeln konnten. Und zwar ausdrücklich die Sensortechniken von WESCAM, die für den Betrieb der türkischen Killerdrohnen unverzichtbar sind. Erdogan rief sogar persönlich bei Kanadas Premierminister Justin Trudeau an und bat ihn, den Rüstungsstopp wenigstens zu lockern. Inzwischen hat L3Harris WESCAM die Zusammenarbeit mit dem Erdogan-Regime sogar noch erweitert und dem türkischen Drohnenproduzenten Baykar das Lizenzrecht für die technische Installation verliehen. Baykar hat eine Nebenfirma mit dem Namen „Baykar Wescam Service-Zentrum“ gegründet. Damit kann die gesamte Wartung und Programmaktualisierung der Modelle MX-15D und CMX-15D in der Türkei vollzogen werden.
Project Ploughshares: Risiken sind offensichtlich
„Seit 2017 ist die Türkei ein Hauptabnehmer von WESCAM-Produkten, nach den Vereinigten Staaten sogar der zweitgrößte. In dieser Zeit hat das türkische Militär nicht nur aktiv versucht, Widerstände im Südosten der Türkei niederzuschlagen, sondern ist auch zunehmend in bewaffnete Konflikte in Syrien, Irak und Libyen verwickelt”, unterstreicht Project Ploughshares. Weiter stellt die Friedensinitiative fest: „Ausgehend von einer Analyse der internationalen Verpflichtungen Kanadas, der innerstaatlichen Rüstungskontrollen und einer Bewertung des kriegerischen Verhaltens der Türkei stellt der Export von WESCAM-Sensoren durch Kanada ein erhebliches Risiko dar, menschliches Leid, einschließlich Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts, zu erleichtern. Kanadische Beamte sind durch das Völkerrecht und die kanadischen Gesetze verpflichtet, die Risiken solcher Exporte zu mindern, auch durch die Verweigerung von Ausfuhrgenehmigungen. Vor allem, wenn solche Risiken von Anfang an offensichtlich sind - was bei WESCAM-Exporten in die Türkei der Fall zu sein scheint.”
Türkei exportiert Drohnen mit WESCAM-Technik nach Libyen
Die Organisation hat zur Erstellung des Berichts auf Regierungsdokumente und Daten aus öffentlich zugänglichen Dokumenten, Satellitenbilder, Medienberichte, akademische Quellen, Aussagen von glaubwürdigen Menschenrechtler*innen und Open-Source-Daten zurückgegriffen. „Unsere zusammengetragenen Beweise deuten eindeutig darauf hin, dass die an unbemannte Drohnen angebrachten elektrooptischen/infraroten Kamerasysteme der WESCAM von der Türkei bei ihren jüngsten militärischen Aktivitäten in großem Umfang eingesetzt wurden. Ein solcher Einsatz stellt die höchste Warnstufe dar, da dem türkischen Militär schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und andere Verletzungen vorgeworfen werden, insbesondere bei der Durchführung von Luftangriffen. Es scheint zudem, dass die Türkei auch mit WESCAM-Sensoren ausgerüstete Drohnen an bewaffnete Gruppen in Libyen exportiert hat. Das stellt einen eklatanten Verstoß gegen das bald zehn Jahre andauernden UN-Waffenembargos dar.”
EO/IR-Systeme schon 2015 bei Militärbelagerung eingesetzt
Laut der Friedensinitiative Project Ploughshares spielten EO/IR-Systeme aus kanadischer Produktion bereits bei türkischen Drohnenangriffen in Nordkurdistan im Jahr 2015 eine Rolle - und zwar im Zuge der Militärbelagerung selbstverwalteter kurdischer Städte. Die Bayraktar TB2, ausgestattet mit der WESCAM MX-15D, diene der Türkei am häufigsten „für inländische Operationen zur Aufstandsbekämpfung”. Türkische Drohnen seien „fast ständig am Himmel im Südosten des Landes präsent”.Fast jeden Tag feuere eine türkische Drohne, in der Regel eine TB2, entweder auf ein Ziel oder gebe den Standort eines Ziels an, das anschließend von einer F-16 (Kampfjet) oder einem Kampfhubschrauber bombardiert werde, zitiert der Bericht Umar Farooq von The Intercept.
Auch bei den Angriffskriegen in Efrîn Anfang 2018 und in Serêkaniyê (Ras al-Ain) sowie Girê Spî (Tall Abyad) im vergangenen Herbst seien taktische Überwachungssysteme aus kanadischer Produktion im Dauereinsatz für die Türkei gewesen. „In erster Linie bombardierten die türkischen Streitkräfte die Demokratischen Kräfte Syriens und die Volksverteidigungseinheiten, aber auch die Zivilbevölkerung, zivile Infrastruktur – einschließlich Märkte –, Weltkulturerbe und Krankenhäuser.” Die Organisation macht auch auf die Bombardierung mehrerer ziviler Fahrzeugkonvois im März 2018 in Efrîn aufmerksam, die dutzende Tote und Verletzte forderten. Unter ihnen war auch die britische Internatonalistin Anna Campbell (Hêlîn Qereçox). Der tödliche Luftangriff auf den ezidischen Politiker Zekî Şengalî (Ismail Özden) am 15. August 2018 in Şengal hätte ohne kanadische Drohnentechnik ebenfalls nicht durchgeführt werden können.
„Die Exporte von WESCAM-Systemen für die Türkei werden trotz der Ratifizierung des ATT- Waffenhandelsabkommens durch Kanada nicht eingestellt. Der Vertrag bildet einen verbindlichen Rahmen, der darauf abzielt, den internationalen Handel und den Transport von konventionellen Waffen zu regulieren und das durch die Verbreitung von Waffen verursachte menschliche Leid zu verringern. Der Export der WESCAM-Sensoren in die Türkei stellt eine beunruhigendes Bild von der Art und Weise dar, wie Kanada seinen Verpflichtungen im Rahmen des ATT nicht nachkommt.” Weshalb Kanada das Waffenembargo gegen Ankara gelockert hat, ist unterdessen noch immer unklar. Die Regierung von Justin Trudeau hat sich bislang nicht geäußert. Der gesamte Bericht von Project Ploughshares ist unter nachfolgendem Link abrufbar: