Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Anklage gegen den kurdischen Politiker Selahattin Demirtaş erhoben. Der 48-Jährige wird beschuldigt, „Propaganda für eine Terrororganisation“ betrieben zu haben. Grundlage ist ein Eintrag von Demirtaş im Kurznachrichtendienst Twitter. Der Beitrag wurde im Jahr 2013 verfasst und hat den Inhalt „Bijî Serok Apo“. Sollte es zu einer Verurteilung kommen, drohen dem Ex-Vorsitzenden der HDP bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe.
Nach Angaben des Verteidigungsteams von Selahattin Demirtaş ist die Anklageschrift bereits Mitte vergangener Woche bei einer der großen Strafkammern in Ankara eingereicht worden. Das Papier stamme aus der Feder von Staatsanwalt Ahmet Altun, der bereits die Anklage im „Kobanê-Prozess“ verfasste. Altun kommt aus den Strukturen der Fetullah-Gülen-Bewegung, die von der türkischen Regierung für den vermeintlichen Putsch von 2016 verantwortlich gemacht wird und seither als Terrororganisation verfolgt wird. Mittlerweile gilt der Staatsanwalt als Anhänger der rechtsextremen Partei MHP. Nach Bestechungsvorwürfen war Altun in der Vergangenheit aus Düzce nach Kayseri versetzt worden. Nachdem er durch die massive Verfolgung vermeintlicher Gülen-Anhänger, die er öffentlich als „Viren“ bezeichnete“, wieder in die Gunst des Regimes kam, wurde er zum stellvertretenden Generalstaatsanwalt von Izmir ernannt. Für das von der HDP als „Komplott“ bezeichnete Kobanê-Verfahren gegen 108 Angeklagte, darunter fast der gesamte ehemalige Vorstand der Partei, war Altun von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan höchstpersönlich zum Chefankläger ernannt worden.
Anklage beschäftigt sich mit „PKK/KCK-Strukturen“
Insgesamt 28 Seiten umfasse die neue Anklageschrift gegen Demirtaş, erklärte der Rechtsbeistand des kurdischen Politikers. Hauptsächlich würden darin allerdings die „Strukturen von PKK/KCK“ behandelt. Zur vorgeworfenen Straftat heiße es lediglich, dass die Strafverfolgung nach einer Anzeige bei der Koordinationsstelle für die Ermittlungen im Bereich der Internetkriminalität eingeleitet worden sei. Formell wurde die Anklageschrift noch nicht angenommen. Es gilt allerdings als wahrscheinlich, dass das Verfahren zugelassen wird – auch wenn „Bijî Serok Apo“ selbst nach Auffassung des türkischen Verfassungsgerichtshofs nicht als Straftat gilt.
Parole von Meinungsfreiheit gedeckt
Der Staatsgerichtshof mit Sitz in Ankara hatte im März 2020 in einem Urteil bekräftigt, dass die kurdische Parole von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. In dem Beschluss wurde zudem darauf hingewiesen, dass die Unterstrafestellung von angeblicher Terrorpropaganda in dem Zusammenhang als vermeintlich abstraktes Gefährdungsdelikt das Potenzial habe, auch andere verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten einzuschränken. Wenige Monate vor der überraschenden Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Türkei wegen Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung wegen des Skandierens der Parole „Bijî Serok Apo“ verurteilt. Geklagt hatten zwei Aktivisten, die zu Geldstrafen verurteilt worden waren.
Geschichte der Parole „Bijî Serok Apo”
Die Parole „Bijî Serok Apo” hat eine lange Geschichte. Übersetzt lautet sie „Es lebe der Vorsitzende Apo“ und bezieht sich auf den PKK-Begründer Abdullah Öcalan. Die Anfänge der Parole gehen zurück ins Jahr 1984, als sich eine Handvoll Guerillakämpfer:innen auf den Beginn des bewaffneten Widerstands in Kurdistan vorbereitete. Entsprungen ist „Bijî Serok Apo“ allerdings auf einem Sternmarsch von Hannover nach Bonn. Die Demonstration gilt als erster „Langer Marsch“ der kurdischen Exil-Community.
Demirtaş trotz EGMR-Urteil im Gefängnis
Selahattin Demirtaş ist seit über fünf Jahren im Gefängnis. Der damalige HDP-Vorsitzende wurde im November 2016 zusammen mit neun weiteren HDP-Abgeordneten, darunter der früheren Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ, verhaftet. Trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wird er nicht freigelassen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm im Hauptverfahren unter anderem Gründung und Führung einer Terrororganisation, Terrorpropaganda und Volksverhetzung vor. Die Anklage baut auf 31 Ermittlungsberichten auf, die dem türkischen Parlament während seiner Zeit als Abgeordneter zur Aufhebung der Immunität vorgelegt worden waren. Sollte Demirtaş verurteilt werden, drohen ihm bis zu 142 Jahre Haft. Im Verfahren um die Proteste vom Oktober 2014 gegen die türkische Unterstützung für die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) beim Überfall auf die Stadt Kobanê in Rojava werden für Demirtaş sogar bis zu 15.000 utopische Jahre Gefängnis gefordert. In mehreren Verfahren, darunter wegen Präsidentenbeleidigung, wurde Demirtaş bereits zu verschiedenhohen Haftstrafen verurteilt.