Der türkische Verfassungsgerichtshof hat der Beschwerde einer kurdischen Friedensmutter gegen eine Verurteilung wegen „Terrorpropaganda“ als offensichtlich begründet stattgegeben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Regionalgericht zurückverwiesen. Wann der Prozess neu aufgerollt wird, ist noch unklar.
Die Beschwerdeführerin war 2015 vom fünften Schwurgerichtshof Diyarbakir (ku. Amed) zu einer zehnmonatigen Haftstrafe verurteilt worden, die wiederum für fünf Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde. Hintergrund war ein Verfahren wegen „Propaganda für eine verbotene Terrororganisation“ im Zusammenhang mit der Parole „Bijî Serok Apo“ (dt. Es lebe Serok Apo, gemeint ist Abdullah Öcalan), die die heute 61-jährige Esma Seydaoğlu am 26. Juli 2014 bei einem Protest in Amed gegen den von der Türkei unterstützten Überfall der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) auf die nordsyrische Stadt Kobanê skandiert haben soll.
Die Haftstrafe begründete das Gericht in Amed damit, dass die Frau mit der Parole zu Gewalt aufgerufen habe. Dagegen führte der Rechtsbeistand von Seydaoğlu ins Feld, dass Öcalan weiten Teilen des kurdischen Volkes als legitimer Repräsentant gelte. Im Übrigen sei der Protest friedlich verlaufen, Zusammenstöße mit Sicherheitskräften habe es nicht gegeben. In Anbetracht dessen sei die Äußerung „Bijî Serok Apo“ nicht gewaltaufrufend und von der Meinungsfreiheit gedeckt. Der gegenteilige Gerichtsbeschluss habe die Beschwerdeführerin jedoch in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung einschließlich ihres Rechts, ihre Meinung zu verbreiten, verletzt.
Diese Ansicht teilen auch die Richter am türkischen Verfassungsgerichtshof. Im Beschluss wird zudem darauf hingewiesen, dass die Unterstrafestellung von angeblicher Terrorpropaganda als vermeintlich abstraktes Gefährdungsdelikt das Potenzial hat, die verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten, insbesondere die Meinungsfreiheit, einzuschränken.
EGMR verurteilte Türkei
Ende letzten Jahres verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Türkei wegen Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung wegen des Skandierens der Parole „Bijî Serok Apo“. Geklagt hatten zwei Aktivisten, die zu Geldstrafen verurteilt worden waren.
Unklarheiten in Deutschland nun aus dem Weg geräumt
In Deutschland herrscht Unklarheit darüber, ob das Skandieren von „Bijî Serok Apo“ einen Straftatbestand erfüllt. Vergangenen April wurde Tahir Köçer, Ko-Vorsitzender der Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland (KON-MED), vor dem Amtsgericht Braunschweig zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er auf einer Demonstration für die Freiheit Abdullah Öcalans am 20. Oktober 2017 den Ausruf verwendet haben soll. Wegen desselben Vorwurfs sprach das Amtsgericht Kassel allerdings im November 2019 einen Angeklagten frei. Die Äußerung „Bijî Serok Apo“ sei zulässig und von der Meinungsfreiheit gedeckt, entschied das Gericht. Auch die Staatsschutzkammer des Landgerichts Berlin hat im letzen Jahr entschieden, dass der Ausruf nicht strafbar ist.