Nach Mandatsentzug von Can Atalay: Kampf gegen Putschmechanismus geht weiter

Trotz einer Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichtshofs wurde dem inhaftierten TIP-Abgeordneten Can Atalay das Mandat entzogen. Im Parlament kam es zu Protesten. Der DBP-Vorsitzende Bayındır bezeichnet das Vorgehen als „Putschmechanismus“.

Am 30. Januar wurde der Livestream aus dem türkischen Parlament kurzzeitig abgeschaltet. Die heftigen Proteste der Fraktionen der DEM-Partei, TIP, CHP und Saadet gegen die verfassungswidrige Entscheidung sollten die Öffentlichkeit nicht erreichen. Die Abgeordneten waren zum Pult des stellvertretenden Sprechers des Parlaments und Justizministers, Bekir Bozdağ, gezogen und riefen „Freiheit für Can Atalay“. Aus der Gruppe wurde eine türkische Verfassung auf das Parlamentspräsidium geworfen.

Gewaltenteilung in der Türkei ist das Papier, auf dem sie geschrieben steht, nicht wert

Der Menschenrechtsanwalt Can Atalay war 2022 in einem Verfahren um die Gezi-Proteste zu 18 Jahren wegen „Verschwörung gegen die Regierung“ verurteilt worden. Ihm wird vorgeworfen, den in einem konstruierten politischen Verfahren wegen „Verschwörung“ zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilten Kulturmäzen Osman Kavala unterstützt zu haben. Bei der Parlamentswahl am 14. Mai 2023 wurde Atalay für die linke TIP (Arbeiterpartei der Türkei) ins Parlament gewählt. Das Urteil gegen Atalay wurde vom Kassationsgerichtshof bestätigt. Dennoch hätte Atalay mit seiner Wahl freigelassen werden müssen. Der Kassationsgerichtshof verweigerte jedoch die Freilassung Atalays. Das Verfassungsgericht, das in solchen Fällen eigentlich das letzte Wort hat, stellte aber auf Antrag von Atalay fest, dass der Kassationsgerichtshof damit sein passives Wahlrecht und sein Recht auf politische Betätigung verletzt habe, und ordnete seine Freilassung an. Dennoch wurde ihm die Freilassung verweigert, was einen Verfassungsbruch darstellt. Der Kassationsgerichtshof ging noch weiter und erstatte Anzeige gegen die Verfassungsrichter wegen Kompetenzüberschreitung. Währenddessen beging der Kassationsgerichtshof die eigentliche Kompetenzüberschreitung, indem er den Mandatsentzug gegen Atalay anordnete. Dies kann aber nur das Parlament entscheiden. Die AKP/MHP-Mehrheit setzte diesen Beschluss am 30. Januar durch. Dies zeigt, dass das Vorgehen des Kassationsgerichtshofs ein Projekt der Regierung ist und macht klar, dass Gewaltenteilung in der Türkei de facto nicht existiert. Das zeigte auch Regimechef Erdoğan, der im November 2023 dem gleichgeschalteten Kassationsgerichtshof beisprang und erklärte, die „vielen Fehler“ des Verfassungsgerichts hätten ihn „sehr traurig gemacht“. Dass die von ihm kontrollierten Fraktionen seiner Entscheidung folgten und diese nun auch einen parlamentarischen Anstrich bekommen hat, ist in einem solchen Regimen nur eine Frage der Formalität.

Bayındır: „Wir werden nicht weichen“

Der Ko-Vorsitzende der Partei der Demokratischen Regionen (DBP), Keskin Bayındır, bezeichnete das Vorgehen treffend als Putschmechanismus und erklärte gegenüber ANF, solche „Putsche gegen die demokratische Politik“ seien unvermeidlich, so lange die kurdische Frage nicht gelöst werde. Der Regierung warf er vor, dass es nicht einmal die eigenen Gesetze anerkenne und den Willen des Volkes vollkommen missachte. Er erinnerte an die Geschichte dieses Vorgehens: „Es ist ohne Zweifel nicht das erste Mal, dass wir diesen Putschmechanismus wirken sehen. Dieser Mechanismus, mit dem der Wille des Volkes und der Weg für den demokratischen Kampf direkt angegriffen wird, wurzelt in den 1990er Jahren. Im Jahr 1994 wurden die Abgeordneten der DEP durch einen politischen Putsch aus dem Weg geräumt1, heute findet das Gleiche durch die AKP/MHP-Regierung statt. Die Haltung der 1990er Jahre, die den Kampf des kurdischen Volkes für Demokratie durch die Verhaftung von Abgeordneten und das Verbot politischer Parteien verhindern suchte, wurde heute aktualisiert und hat sich in ein Regime verwandelt, das den Willen des Volkes vollkommen missachtet. Der politische Putsch gegen die HDP am 4. November 2016 und der anschließende Mandatsraub von Leyla Güven und Musa Farisoğulları2 sollten ebenfalls nicht vergessen werden.“

Durch Parteiverbote, Inhaftierung von Mandatsträger:innen und Ernennung von Zwangsverwaltern in demokratisch regierten Kommunen werde der Wille von „Millionen von Menschen“ mit Füßen getreten, erklärte der kurdische Politiker und fuhr fort: „Der Grund, warum dieser Putschmechanismus weiter wirkt, liegt darin, dass bisher kein ernsthaftes und starkes Verständnis von Kampf geschaffen worden ist. Deshalb bestehen wir auf der Lösung der kurdischen Frage. Die Regierung missachtet den Willen des kurdischen Volkes und greift nach Belieben alle Bereiche und Dynamiken der Gesellschaft an. Solange die kurdische Frage ungelöst bleibt, wird es unvermeidlich sein, dass sich neue Putsche gegen die Kanäle der demokratischen Politik entwickeln werden. Es sollte klar sein, dass diese Entscheidung [zu Can Atalay] für uns keinerlei Gültigkeit besitzt. Wir werden diese Entscheidung weder anerkennen noch im Angesicht dieser Putschpolitik auch nur einen Schritt zurückweichen. Wir werden unseren Kampf für die demokratische Politik gegenüber der Regierung, die offen Recht bricht, fortsetzen.“


1 Im März 1994 hob das türkische Parlament dann die Immunität von sechs DEP-Abgeordneten, die zuvor der HEP-Fraktion angehörten, auf. Unter ihnen waren auch Selim Sadak, Leyla Zana, Orhan Doğan und Hatip Dicle. Die Nationalversammlung begrüßte die Entscheidung mit Standing Ovations. Zana und ihre Fraktionskollegen wurden später wegen „Unterstützung einer terroristischen Organisation“ zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte sogar die Todesstrafe gefordert.

2 Am 4. Juni 2020 wurde den Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP) Leyla Güven und Musa Farisoğulları ihr Mandat entzogen und sie wurden wenige Stunden später inhaftiert. Leyla Güven und Musa Farisoğulları waren im März 2017 im Rahmen des international kritisierten KCK-Verfahrens wegen Terrorvorwürfen zu Freiheitsstrafen verurteilt worden, die Urteile hatten folglich keine Relevanz für ihre Mandatsausübung. Die Mandatsaberkennung stellte daher ebenfalls einen Rechtsbruch dar.