Vor hundert Jahren wurde mit dem Vertrag von Lausanne die Vierteilung Kurdistans beschlossen. In diesem Zusammenhang findet in der Lausanner Kongresshalle Beaulieu eine zweitägige Konferenz statt, an der mehr als 600 Delegierte aus allen Teilen Kurdistans teilnehmen. Wir haben am Rande der Konferenz mit Teilnehmenden aus verschiedenen Landesteilen über ihre Einschätzungen gesprochen.
Blesa Jahar Forman: Die YNK kämpft für die Freiheit des kurdischen Volkes
Blesa Jahar Forman nimmt für die Patriotische Union Kurdistans (YNK) an der Konferenz teil und betonte, das ihre Partei für die Freiheit des kurdischen Volkes kämpft und sich aus diesem Grund an der Diskussion über die Auswirkungen des Lausanner Vertrags beteiligt. Die Konferenz sei von Vertreter:innen aus allen kurdischen Landesteilen organisiert worden und daher wichtig für die Zukunft Kurdistans.
Fikret İğrek: Wir werden eine gemeinsame Strategie festlegen
Fikret İğrek, Mitglied des Ausschusses für Diplomatie des KNK (Nationalkongress Kurdistan), erklärte, dass das türkische AKP/MHP-Regime alle kurdischen Errungenschaften im zweiten Jahrhundert nach dem Vertrag von Lausanne vollständig zerstören wolle und neoosmanische Pläne verfolge: „Der türkische Staat will vor allem die in Rojava und Başûr erreichten Errungenschaften zerstören, indem er die Grenzen von Misak-ı Milli erweitert. Der Şengal-Vertrag von 2020 und die Besetzung von Serêkaniyê und Efrîn erfolgten im Einklang mit diesen Zielen. Auch die Angriffe in Başûr und die verschärfte Isolierung von Herrn Abdullah Öcalan erfolgen im Rahmen der Ziele des türkischen Staates für ein zweites Lausanne."
Die in Lausanne stattfindende Konferenz ziele darauf ab, eine gemeinsame Strategie gegen den kolonialistischen türkischen Staat festzulegen, sagte İğrek: „Das Volk von Kurdistan hat mit seinem Widerstand und Kampf trotz der durch den Lausanner Vertrag verursachten Zerstörung wichtige Erfolge erzielt. Von nun an wird es sich mit seinem Widerstand gegen alle Arten von Angriffen zur Wehr setzen. Darüber hinaus muss auch eine politische Strategie entwickelt werden. Diese wird sich nach den Diskussionen, die wir auf dieser Konferenz führen werden, zeigen."
Musa Farisoğulları: Die Konferenz drückt die Ablehnung des Vertrags von Lausanne aus
Der kurdische Politiker Musa Farisoğulları, ehemaliger HDP-Abgeordneter und politischer Gefangener in der Türkei, bezeichnete den Vertrag von Lausanne als ein Dokument der Auslöschung des kurdischen Volkes und erklärte: „Diese hier organisierte Konferenz drückt die Ablehnung des Vertrags von Lausanne aus. Die Bewertungen der Teilnehmenden aus den vier Teilen Kurdistans sind historisch. Wir haben den Anspruch, die hier entstandenen Diskussionen in eine Entscheidung umzuwandeln. Nach dem Vertrag von Lausanne wurde der Völkermord an den Kurdinnen und Kurden in die Tat umgesetzt. Wir bewerten Lausanne als einen Vertrag, der auf der Ablehnung und Verleugnung der Kurden sowie ihrer physischen Ausrottung beruht. Mit der Annahme dieses Vertrages fanden große Massaker in den vier Teilen Kurdistans statt."
Der seit fünfzig Jahren andauernde Kampf der kurdischen Freiheitsbewegung habe wichtige Werte geschaffen und das kurdische Volk werde den Vertrag von Lausanne nicht länger akzeptieren, so Farisoğulları: „Das ist der Punkt, in dem sich die Delegierten einig sind. Es wurde konkret zum Ausdruck gebracht, dass es nie wieder ein Konzept wie Lausanne geben wird. In der zu veröffentlichenden Abschlusserklärung werden wichtige Entscheidungen bekannt gegeben werden. In diesem Sinne ist die Konferenz hier für uns historisch. Wenn wir unsere Zukunft, unsere Freiheit bestimmen wollen, müssen wir sie mit eigener Kraft verwirklichen und die Errungenschaften der letzten fünfzig Jahre schützen. Wir müssen das neue Jahrhundert in ein Zeitalter der Freiheit Kurdistans und des kurdischen Volkes umwandeln, und ich glaube, dass wir einen Status in Kraft setzen müssen.“
Berdan Öztürk: Mit Lausanne wurde der physische und kulturelle Völkermord eingeleitet
Berdan Öztürk, Abgeordneter der Grünen Linkspartei (YSP) in der türkischen Nationalversammlung und Ko-Vorsitzender des Demokratischen Gesellschaftskongresses (KCD), erklärte, dass der Vertrag von Lausanne einen Wendepunkt für die Kurdinnen und Kurden darstelle und die getroffenen Entscheidungen eine Schande für die Menschheit seien. Das Hauptziel der Konferenz bestehe darin, den Vertrag von Lausanne zu annullieren und das nächste Jahrhundert für das kurdische Volk und Kurdistan frei zu machen: „In der kommenden Zeit müssen wir in allen Bereichen einen ernsthaften Kampf gegen den Vertrag von Lausanne und seine Unterzeichner führen. Mit Lausanne wurde der physische und kulturelle Völkermord an den Kurdinnen und Kurden eingeleitet. Dieser Völkermord dauert bis heute an. Wenn wir die Besetzung Südkurdistans, die Angriffe auf Rojava, die unerbittlichen Verhaftungen in Nordkurdistan seit acht Jahren und den in jeder Dimension durchgeführten Vernichtungsplan betrachten, wissen wir sehr wohl, dass der Vertrag von Lausanne die Grundlage für all dies ist. In diesem Sinne ist diese Konferenz historisch und von großer Bedeutung für den weiteren Prozess. Die Entscheidungen, die hier getroffen werden, werden Licht in den kommenden Prozess bringen wird. Die Angriffe richten sich gegen die Existenz von allen vier Teilen Kurdistans als Ganzes, in diesem Sinne werden wir gemeinsam mit allen unseren Menschen in Kurdistan reagieren."
Abdulkarim Omar: Das kurdische Volk ist heute organisiert
Abdulkarim Omar ist Europavertreter der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES), die aus der Revolution von Rojava hervorgegangen ist. Er wies auf die Errungenschaften hin, die die Kurdinnen und Kurden trotz der schweren Folgen des Vertrags von Lausanne erkämpft haben: „Trotz Lausanne sind die in Rojava und im Süden erzielten Erfolge eine Hoffnung für ganz Kurdistan. Auch die von Frauen angeführten Entwicklungen in Rojhilat und der Widerstand in Bakur sind wichtige Entwicklungen. Der türkische Staat will all diese Errungenschaften mit einem zweiten Lausanne zerstören. In diesem Zusammenhang setzt der türkische Staat alle Arten von Angriffen fort, um einen Völkermord zu begehen. Aber hundert Jahre sind vergangen und das kurdische Volk konnte nicht vernichtet werden. Die Kurdinnen und Kurden werden niemals zerstört werden. Sie sind nicht mehr die Kurden von vor hundert Jahren, sie sind organisiert und haben jetzt viele Freundinnen und Freunde. Die Entscheidungen, die auf dieser Konferenz getroffen werden, werden der Einheit und Zukunft Kurdistans dienen."