Seit dem 4. Oktober rollt eine massive türkische Angriffswelle über Rojava. Der türkische Staat greift die Region immer wieder mit Kampfflugzeugen an. Ersten Bilanzen zufolge wurden in den vergangenen zwei Tagen elf Menschen durch die türkischen Angriffe getötet. Bei fünf von ihnen handelte es sich um Zivilist:innen, bei den übrigen um Mitglieder der Sicherheitskräfte.
„Türkischer Außenminister kündigte Kriegsverbrechen offen an“
Der Exekutivrat des Nationalkongresses Kurdistan (KNK) erklärte am Donnerstagabend angesichts der Angriffe: „Gestern sagte der türkische Außenminister Hakan Fidan öffentlich, dass alle Infrastruktur- und Energieanlagen in Rojava/Nordostsyrien und Nordirak/Kurdistan-Region Irak ‚legitime Ziele‘ seien, obwohl militärische Angriffe auf zivile Infrastrukturen eindeutig gegen internationale humanitäre Gesetze und Konventionen verstoßen. Der türkische Außenminister Fidan hat ohne Beweise behauptet, dass die Verantwortlichen für den Anschlag auf das türkische Innenministerium am 1. Oktober aus Syrien gekommen wären. Nur wenige Stunden nach dieser Erklärung begannen türkische Kampfflugzeuge den Ort Mişêrfa (al-Misheirfah) bei Hesekê (al-Hasaka) und sieben weitere Orte in den Bezirken Amûdê und Qamişlo zu bombardieren. Dabei kamen Berichten zufolge mehrere Zivilisten ums Leben.
Während die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) die Behauptungen Fidans, die Urheber des Anschlags in Ankara seien aus Syrien gekommen, zurückwiesen, griff die türkische Luftwaffe bereits zivile Siedlungsgebiete in Nord- und Ostsyrien an. Die QSD erklärten angesichts dessen: ‚Die Tatsache, dass die Türkei nach immer neuen Vorwänden sucht, um ihre andauernden Angriffe auf diese Region zu legitimieren und um neue Offensiven zu beginnen, besorgt uns zutiefst. Angriffe auf die Infrastruktur und wirtschaftlichen Ressourcen der Region sowie ihre Städte stellen Kriegsverbrechen dar.‘
„Das Leben von mehr als fünf Millionen Menschen wird in Gefahr gebracht“
Zur zivilen Infrastruktur gehören Schulen, Krankenhäuser, Staudämme, Kraftwerke, Getreidespeicher und andere überlebensnotwendige Einrichtungen. Diese Strukturen in den selbstverwalteten Gebieten sind im Laufe der vergangenen Jahre wieder und wieder zum Ziel der türkischen Angriffe geworden. Der Krieg des türkischen Staates gegen die Zivilbevölkerung in den vorwiegend kurdisch besiedelten Gebieten in Syrien und im Irak gefährdet bewusst das Leben von fünf Millionen Menschen, einschließlich Hunderttausender Vertriebener und Flüchtlinge.
„Angriffe nach außen, Repression nach innen“
Das nicht enden wollende völkerrechtswidrige Bombardement der Bergregionen im Nordirak dauert ebenfalls an. Der türkische Staat muss für seine über Jahre hinweg andauernden Angriffe auf die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur sowie für seine übrigen Kriegsverbrechen in Nord- und Ostsyrien und in der Kurdistan-Region Irak zur Rechenschaft gezogen werden. Parallel zur neuen militärischen Aggression hat der türkische Staat eine neue Repressionswelle im Inland eingeleitet und seit dem 1. Oktober Hunderte von kurdischen Politikerinnen und Politikern willkürlich festnehmen und inhaftieren lassen.
„Schweigen der internationalen Organisationen ist stille Zustimmung zu Völkerrechtsbruch“
Es ist empörend, dass die türkische Regierung öffentlich eine Kampagne der ethnischen Säuberung gegen die Zivilbevölkerung ankündigen kann und eine direkte Absichtserklärung, systematisch Kriegsverbrechen zu begehen, mit dem Schweigen aller relevanten internationalen Organisationen, denen die Türkei angehört, einschließlich der Internationalen Anti-IS-Koalition, des Europarats, der NATO und der Vereinten Nationen, quittiert wird. Durch ihr Schweigen wird ein Völkerrechtsbruch akzeptiert und dem türkischen Staat die stillschweigende Zustimmung erteilt, nach Gutdünken vorzugehen.
„Eine Reorganisierung des IS droht regionale und internationale Sicherheit zu gefährden“
Diese neue Kampagne der militärischen Aggression und ethnischen Säuberung durch den türkischen Staat ist eine Folge der politischen Unfähigkeit, einen jahrhundertealten Konflikt zu lösen, der auf der Verweigerung des grundlegenden Rechts des kurdischen Volkes auf Selbstbestimmung beruht. Die internationale Akzeptanz und Unterstützung des aggressiven und militaristischen Vorgehens des türkischen Staates verschärft den kurdisch-türkischen Konflikt und wird, wenn es kein internationales politisches, juristisches und diplomatisches Eingreifen gibt, zu mehr Instabilität, Vertreibung und Krieg in der gesamten Region führen. Darüber hinaus werden Angriffe gegen Nord- und Ostsyrien dem weiterhin vom türkischen Staat unterstützten IS unmittelbar die Möglichkeit geben, sich neu zu formieren und eine erneute Bedrohung für die regionale und globale Sicherheit darstellen.
„Kurdische Frage muss politisch gelöst werden“
Der Vorfall in Ankara hat die internationale Aufmerksamkeit erneut auf die ungelöste kurdische Frage in der Türkei gelenkt. Diese hat zu Zehntausenden von Todesopfern und Millionen von Vertriebenen in verschiedenen Ländern geführt. Sie hat andere große regionale Krisen beeinflusst und internationale Mächte auf den Plan gerufen. Dieser Konflikt muss politisch gelöst werden.
„Die Türkei muss zur Einhaltung des Völkerrechts gezwungen werden“
Zu diesem Zweck fordern wir alle internationalen Organisationen, in denen die Türkei Mitglied ist, auf, die Türkei zur Einhaltung des Völkerrechts zu zwingen, um so weitere neue Operationen der ethnischen Säuberung durch den türkischen Staat zu verhindern.
Darüber hinaus rufen wir alle Freund:innen des kurdischen Volkes und anderer Völker Nord- und Ostsyriens auf, ihre Unterstützung für die Völker der Region und ihren kompromisslosen Widerstand gegen die Absicht des türkischen Staates, einen totalen Krieg gegen die Zivilbevölkerung der Region zu führen, zum Ausdruck zu bringen.“