JXK: Einschüchterungspolitik hat neue Dimensionen angenommen

Der Verband der Studierenden Frauen aus Kurdistan (JXK) nimmt mit einer Presseerklärung Stellung zur Selbstverbrennung von Uğur Şakar und den Hintergründen seines Protests. Die Haltung deutscher Medien wird scharf verurteilt.

Der Kurde Uğur Şakar, der sich am Mittwoch aus Protest gegen die Isolation Abdullah Öcalans vor dem Krefelder Gerichtszentrum selbst angezündet und dabei schwere Verletzungen erlitten hat, befindet sich nach wie vor in einem kritischen Zustand in der Unfallklinik Duisburg. Der Verband der Studierenden Frauen aus Kurdistan (JXK) nimmt mit einer Presseerklärung Stellung zu der Selbstverbrennung Şakars und den Hintergründen. Der 43-Jährige nahm vergangene Woche an einem Sternmarsch der kurdischen Jugend teil, der von Mannheim zur Großdemonstration nach Straßburg führen sollte. In der Nähe von Karlsruhe griff die Polizei den Marsch an, etliche Jugendliche wurden unter Schlägen festgenommen. Ein an Epilepsie erkrankter Aktivist ist von zwei Polizisten bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt worden und musste in einem Karlsruher Krankenhaus stationär behandelt werden. Uğur Şakar schilderte in einem Brief die Beweggründe, die zu seiner Selbstverbrennung geführt haben. Darin verurteilte er unter anderem auch die Polizeigewalt gegen die Teilnehmer des Marsches auf Straßburg. Die JXK erklären:

„Gestern haben wir die Nachricht erhalten, dass sich unser Genosse Uğur vor dem Krefelder Amtsgericht selbst angezündet hat, um gegen die deutsche Polizeigewalt und die Totalisolation des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan zu protestieren. Vor dem Gerichtszentrum in Krefeld übergoss er seinen Körper mit Benzin und setzte sich in Brand. Sein Gesundheitszustand ist lebensbedrohlich.

Die deutschen Medien berichteten zu allererst von einem angeblich labilen Zustand des Mannes und gaben an, es handele sich bei ihm um jemanden, der sich zuvor wegen einer Straftat vor Gericht zu verantworten hatte. Dass es sich bei diesem Akt um einen Protest gegen die deutsche Repressionspolitik handelt, einen Protest gegen das Wegsehen angesichts der Hungerstreiks, einen Protest gegen die Totalisolation Abdullah Öcalans, bleibt dabei unerwähnt.

Warum hat sich Uğur Şakar selbst verbrannt? Was wissen wir über den politischen Hintergrund seiner Aktion?

Seit 106 Tagen befindet sich die kurdische Politikerin Leyla Güven im Hungerstreik, um die Totalisolationshaft Abdullah Öcalans zu durchbrechen. Durch ihre Aktion ist eine breite Protestwelle entstanden.

Abdullah Öcalan befindet sich seit nun über 20 Jahren auf der Gefängnisinsel Imrali in Isolationshaft. Der 20. Jahrestag seiner Inhaftierung wurde grade erst in Straßburg mit einem Protest Zehntausender Menschen begleitet. Selbst der Kontakt zu seinen Anwälten wird ihm gänzlich verwehrt. Das Komplott, das am 15. Februar 1999 zur Verhaftung Öcalans geführt hat, wurde von zahlreichen Staaten gemeinsam konzipiert. Auch die Bundesregierung trägt eine massive und entscheidende Mitschuld an dem Komplott gegen Öcalan. Im gleichen Atemzug erklärte der deutsche Staat die kurdische Bevölkerung zum Ziel politischer Eskalationen, welche er mit allen Mitteln bekämpfen wollte.

Uğur Şakar nahm vergangene Woche an dem langen Marsch der kurdischen Jugend teil, der von Mannheim zur Großdemonstration nach Straßburg führen sollte, die jährlich für die Freiheit von Abdullah Öcalan stattfindet. Bereits vor Beginn des langen Marsches sprach die örtliche Polizei in Mannheim ein Verbot des Abbildes von Abdullah Öcalan aus. Die Teilnehmenden ließen sich von der Maßnahme nicht provozieren und hielten sich an die vereinbarten Auflagen.

Im weiteren Verlauf des ersten Tages wurde anschließend mehrfach durch Polizeidurchsagen kundgetan, dass die Parole „Bijî Serok Apo“ (Lang lebe der Vorsitzende Apo) verboten sei. Dieses Verbot – ohne jegliche rechtliche Grundlage - diente am dritten Tag (13. Februar) zur Legitimation eines brutalen Polizeiübergriffes auf alle Teilnehmenden des langen Marsches.

Am dritten Tag des Marsches wurden die Teilnehmenden plötzlich von der Polizei eingekesselt. Dieser Angriff erwies sich als geplant, denn innerhalb weniger Sekunden vermehrte sich die Zahl der Polizeiwagen und der Polizisten. Auch ein Polizeihubschrauber kreiste plötzlich über dem Stadtbezirk. In den darauffolgenden Minuten wurden die Teilnehmenden des Marsches nach und nach gewaltsam und tumultartig aus der gebildeten Menschenkette innerhalb des Kessels gezerrt und zur Ausweiskontrolle geführt. Die meisten Aktivist*innen wurden dabei festgenommen, verprügelt und vorsätzlich verletzt. Zwei Aktivist*innen wurden dabei krankenhausreif geprügelt, viele weitere Teilnehmende festgenommen.

Die deutschen Behörden sprachen anschließend ein Verbot für den langen Marsch aus und erklärten eine angemeldete und friedliche Demonstration für illegal und kriminell.

Mit allen Mitteln wurde in diesem Jahr versucht, den langen Marsch der kurdischen Jugend nach Straßburg zu manipulieren und anschließend zu verbieten. Auch Uğur Şakar war währenddessen vor Ort und zeigte sich schockiertt über das gewaltsame Vorgehen der deutschen Polizei gegen kurdische Demonstranten.

Deutsche Kriminalisierungspolitik: ein Akt der jahrzehntelangen Aggression

Die Kriminalisierung von Kurdinnen und Kurden in Deutschland hat einen langjährigen und politisch tief verwurzelten Hintergrund. Beide Staaten teilen seit jener Zeit den gemeinsamen ideologischen Standpunkt des Nationalismus und Faschismus, welcher zur Unterdrückung, Assimilation und Vertreibung von Minderheiten führt. In der Türkei sind es besonders die Kurden, welche schon immer für ihre Freiheit und Selbstbestimmung zu kämpfen hatten und sowohl im Nahen und Mittleren Osten, als auch in der Diaspora starken Repressionen ausgesetzt sind.

Die in Deutschland immer weiter zunehmende Kriminalisierung von Kurden und ihren Organisationen sowie Symbolen basiert auf einer systematischen Vernichtungspolitik, die besonders von der Türkei und ihren Bündnispartnern getragen wird. Demnach leistet die Bundesregierung den Forderungen der Türkei unter der faschistischen Herrschaft Erdogans bedingungslosen Gehorsam.

Die vorliegende Einschüchterungspolitik hat nun eine neue Dimension angenommen

Mit dem Verbot des langen Marsches in Karlsruhe haben sich die deutschen Behörden erneut zum Handlanger des türkischen Staates gemacht. Dass der physische Übergriff der Polizei auf kurdische Demonstrierende unmittelbar nach der Razzia in zwei kurdischen Verlagen stattfand, bestätigt, dass die deutschen Behörden auf Wunsch Ankaras agieren und die anhaltenden Repressionen gegen die kurdische Bevölkerung in Deutschland systematisch verstärken werden. Die Rechte der kurdischen Minderheit in Deutschland werden mit Füßen getreten.

Solche Verhältnisse kannte man bisher nur aus der Türkei

Die letzten Wochen erinnern uns an die repressive Politik, die die Bundesregierung in den 90er Jahren gegen die hierzulande lebenden Kurden aufnahm. Nun sehen wir sehr deutlich eine erneute Zuspitzung der Brutalität, mit der innenpolitisch gegen die kurdisch-demokratischen Interessen vorgegangen wird, sowie eine außenpolitische Kooperation des deutschen Staates mit dem faschistischen Regime in der Türkei.

Jeglicher kurdischer Aktionismus wird stillschweigend als irrelevant und nicht legitim abgetan. Es herrscht ein ohrenbetäubendes Schweigen über den systematischen und von Deutschland mitfinanzierten Krieg gegen die Kurden und gleichzeitig über den erfolgreichen Kampf kurdischer Verteidigungseinheiten gegen den sogenannten Islamischen Staat und weitere islamistische und faschistische Besatzer in Nord- und Ostsyrien.

Vor grade einmal einem Jahr wurden in Afrin zahlreiche Zivilisteb mit in Deutschland produzierten Panzern von der Türkei ermordet. Derselbe Staat, der kein Problem zu haben scheint, Kurden zu ermorden, versucht nun, eine so eindeutige politische Selbstopferungsaktion um jeden Preis aus der Öffentlichkeit zu halten.

Der Akt der Selbstverbrennung ist eine extreme Form des Protestes

Dieselbe Entwicklung konnten wir beobachten, als nach der Verhaftung Abdullah Öcalans zahlreiche Kurden unter dem Motto „Ihr könnt unsere Sonne nicht verdunkeln“ Aktionen der Selbstverbrennung durchführten. Zuletzt verbrannte sich der 26-jährige Ümit Acar aus Ingolstadt selbst aus Protest gegen die Isolation Öcalans und den Staatsempfang Erdogans in Deutschland.

Doch auch dieser Akt wurde mit all seinen Hintergründen und seiner Bedeutung entstellt dargelegt und die Betroffenen als pathologisch bezeichnet.

Die deutschen Medien schließen nun jede Art der Verantwortlichkeit Deutschlands an dem Leid der Kurden aus und nutzen weiterhin alle Mittel, um die Kriminalisierung der kurdischen Bevölkerung zu erweitern.  Wenn nun in der Presse nicht über den politischen Inhalt der Aktion berichtet wird, sondern über etwaige psychische Probleme, dann ist dies ein widerwärtiger Schachzug der Polizei sowie einiger Medien, um politische Inhalte von der deutschen Öffentlichkeit fern zu halten. Hat die Polizei Angst, dass sich in der Öffentlichkeit hierzulande eine empathische oder eine demokratische Regung den Kurden gegenüber zeigen könnte, wenn sie die Wahrheit sagen? Wenn dem so ist, dann möchten wir dem entgegensetzen:

Alle müssen von der Aktion des Genossen Uğur erfahren! Denn er stößt uns auf die wichtigste Erkenntnis, die wir angesichts der zugespitzten Lage im Mittleren Osten haben müssen: Die Freiheit Abdullah Öcalans! Der Weg, den er eingeschlagen hat, kennzeichnet für uns Kurden und Internationalisten unsere ganze Hoffnung und Freiheit. Etwas, auf das wir insbesondere nach jahrelanger Schikane an jedem Ort der Welt am allerwenigsten verzichten können.

Wenn Menschen wie Uğur Şakar Aktionen des selbstlosen Protests begehen, fällt dem Staat keine Antwort mehr ein, als die Widerständigen zu pathologisieren. Dies folgt demselben Schema, mit dem die europäische Gesellschaft schon seit der Erfindung der Psychiatrie, alle sozialen Probleme, die der Staat aufgrund seiner Ermangelung an kreativem, menschlichem und demokratischem Denken nicht zu lösen vermag, in die Schublade des Krankhaften und Wahnsinnigen schiebt. 

Dies halten wir für eine absolut verwerfliche und unmenschliche Einstellung, denn eine politische Aktion muss mit ihrer gesamten Botschaft auch als politisch verstanden werden!

Und besonders müssen die Verantwortlichen benannt und zur Rechenschaft gezogen werden!

Die deutsche Öffentlichkeit muss endlich die Realität verstehen, dass die Staaten der kapitalistischen Moderne jeden Tag morden, foltern und unwiderruflich zerstören.

Wir akzeptieren diese Verdrängung politischer Fragen nicht länger!

Es kann nicht sein, dass in Deutschland lebenden Kurden das Recht genommen wird, Bücher zu drucken, Musik zu produzieren, zu demonstrieren oder überhaupt eine Existenz zu führen, die noch mit anderen Inhalten belegt ist als mit Konsum und Assimilation.

Wir rufen daher die kurdische und die internationalistische Jugend dazu auf, eine widerständige Haltung zu zeigen!

Es liegt an uns, die Umstände nicht zu akzeptieren und dem Leben derjenigen gerecht zu werden, die für die Freiheit des kurdischen Volkes und die Demokratie im Mittleren Osten ihr Leben gaben.

Lasst uns, besonders zu diesen kritischen Zeiten des Hungerstreiks und den Aufständen in allen Teilen Kurdistans, gemeinsam auf die Straßen und die Forderungen der Widerstandleistenden in die Öffentlichkeit tragen!

Die derzeitige Phase ist eine der entscheidenden Phasen!

Wenn wir heute nicht aufstehen, wenn wir heute nicht laut sind, wenn wir heute nicht hinschauen, dann ist es morgen zu spät!

Es ist mehr als überfällig, dass wir den gegenwärtigen Faschismus zerschlagen, das kurdische Volk befreien und das Imrali-System vernichten!

Das Morgen hängt von unserem Heute ab!

Wie der Freund sagte: Wir werden erfolgreich sein! Niemand kann unsere Sonne verdunkeln lassen! Bijî Serok Apo!“