Istanbul: Mehr als 70 Anzeigen nach Öcalan-Protest

Die Teilnahme an einer Demonstration in Istanbul für die Abschaffung des Isolationsregimes auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali und eine Lösung der kurdischen Frage könnte für viele Beteiligte juristische Folgen haben.

Die Teilnahme an einer Demonstration für die Abschaffung des Isolationsregimes auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali und eine Lösung der kurdischen Frage in Istanbul könnte für viele Beteiligte juristische Folgen haben. Laut ANF-Informationen hat die Polizei mehr als siebzig Anzeigen geschrieben. Gegenstand der Anzeigen sind angebliche Verstöße gegen das Versammlungs- und Demonstrationsgesetz Nr. 2911. Sollte es zur Anklage kommen, würden nicht nur Geldstrafen, sondern auch mehrjährige Haftstrafen drohen.

Auf Aufruf eines Bündnisses aus politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen hatte es am Sonntag im Istanbuler Bezirk Kadıköy einen Sternmarsch für die Freiheit von Abdullah Öcalan gegeben. Anlass war der 25. Jahrestag der erzwungenen Ausreise des inzwischen 74-jährigen PKK-Begründers aus Syrien – die als Beginn des „internationalen Komplotts“ betrachtet wird, das am 15. Februar 1999 in die Verschleppung Öcalans aus Kenia in die Türkei mündete. Die Demonstrierenden forderten bei dem Protest Bedingungen für Öcalan ein, in denen er frei leben und arbeiten kann, um so zur Lösung der kurdischen Frage und damit für ein Ende des Krieges in Kurdistan und der Demokratisierung der Türkei beizutragen.

Die Polizei versuchte die Veranstaltung aufzulösen und ging gegen die Beteiligten vor, insgesamt 73 Personen wurden festgenommen. Unter ihnen befanden sich auch die Ko-Sprecherin des HDK (Demokratischer Kongress der Völker), Esengül Demir, sowie die extra aus Izmir angereisten kurdischen „Friedensmütter“ Narenciye Acar und Hanife Gümüş. Die Festgenommenen wurden zunächst für eine obligatorische Gesundheitskontrolle in Krankenhäuser gebracht, anschließend verteilte man sie auf unterschiedliche Polizeireviere. Erst gegen Mitternacht wurden sie wieder auf freien Fuß gesetzt.


Das sagt das türkische Versammlungs- und Demonstrationsgesetz Nr. 2911: Unbewaffnete, friedliche Versammlungen und Demonstrationen mit Zielen, die keine Straftat darstellen, sind nicht von einer Erlaubnis abhängig (Art. 3 I). Sie sind jedoch anzumelden, und ihre Organisatoren haben bestimmte Vorschriften bezüglich Durchführung, Ort und Zeit zu beachten (Art. 6 ff., 22 f.). Eine einzelne Versammlung kann um bis zu einen Monat hinausgeschoben werden (Art. 17), und wenn die offensichtliche und nahe Gefahr der Begehung einer Straftat besteht, verboten werden. Der Gouverneur einer Region kann aus den gleichen Gründen sämtliche Versammlungen in einer oder mehreren Provinzen oder Bezirken um bis zu einen Monat hinausschieben (Art. 19 I). Art. 28-34 enthalten Strafvorschriften, die wichtigsten sind: Art. 28 I bestraft die Organisation, Leitung und Teilnahme an einer gesetzwidrigen Versammlung oder Demonstration (18 Monate bis drei Jahre Gefängnis und Geldstrafe), Art. 32 I bestraft mit den gleichen Freiheitsstrafen und mit Geldstrafe die Teilnehmer an einer Versammlung oder Demonstration, die sich trotz polizeilicher Aufforderung nicht auflöst; bei gewaltsamem Widerstand gegen die Auflösung beträgt die Strafe drei bis fünf Jahre Gefängnis (Art. 32 III). Dabei stehen Strafen nach Art. 28 I und Art. 32 I unter dem Vorbehalt, dass nicht aufgrund einer anderen Vorschrift eine schwerere Strafe zu verhängen ist. Auf die Teilnahme an einer bewaffneten Versammlung oder Demonstration stehen zwei bis fünf Jahre Gefängnis (Art. 33 I), muss die Versammlung mit Zwang aufgelöst werden, drei bis sechs Jahre Gefängnis (Art. 33 II), und wenn gegen die Auflösung Widerstand geleistet wird, fünf bis acht Jahre Gefängnis (Art. 33 III). (Aus „Einführung in das türkische Strafrecht“, Silvia Tellenbach)