In Iran haben am Dienstag viele Menschen zu einem Generalstreik und weiteren Protesten gegen das Regime in Teheran aufgerufen. Der Streik soll bis Donnerstag gehen und gilt als Gedenken an die Opfer der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste von 2019, die auch als „blutiger November“ bekannt geworden sind. Damals ging es zunächst um steigende Benzinpreise. Die Demonstrationen richteten sich jedoch schnell auch gegen den herrschenden Klerus in Iran. Etwa 1.500 Menschen waren in nur wenigen Tagen weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit getötet worden.
Seit rund zwei Monaten demonstrieren erneut Tausende gegen den herrschenden Klerus Irans. Auslöser der Revolution war der Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini, die im September nach ihrer Festnahme in Teheran von der „Sittenpolizei“ zu Tode geprügelt wurde. Am Dienstagmorgen kursierten bereits Videos von geschlossenen Ladenzeilen in den sozialen Netzwerken. Nach Angaben der kurdischen Menschenrechtsorganisation Hengaw wird der Streik vor allem in den Städten Rojhilats (Ostkurdistan) großflächig umgesetzt. In Kirmaşan (Kermanschah), Sine (Sanandadsch), Qurwe (Qorveh), Ravansar, Bokan, Mahabad, Merîwan, Ciwanro (Dschavanrud), Dîwandere (Divandarreh), Seqiz (Saqqez), Kamyaran und Şahabad (Islamabad-e-gharb) versammelten sich Menschen an Universitäten, zentralen Plätzen und Basaren und riefen „Jin, Jiyan, Azadî“. Studierende boykottierten ihre Vorlesungen und führten stattdessen Sit-ins auf vielbefahrenen Straßen durch.
Offenbar weitere Tote
An mehreren Orten sind iranische Sicherheitskräfte wieder gewaltsam gegen die Proteste vorgegangen. Neben Tränengasgranaten feuerten Regimetruppen auch mit scharfer Munition auf die Menschen. In der Stadt Kamyaran, die sich offenbar der Kontrolle des iranischen Staates entziehen konnte, sollen Demonstrierende eine Wache der paramilitärischen Basidsch-Milizen überrannt haben.Laut Hengaw wurden zwei junge Männer erschossen, ein dritter wurde schwer verletzt.
Gedenken an Khodanur Lajai
In Sine haben Regimetruppen nach Angaben von Hengaw die Universität Kurdistan angegriffen und alle Zufahrtswege blockiert. Zuvor gab es mit einem Akt des Gedenkens an den Belutschen Khodanur Lajai eine unmissverständliche Botschaft an das Regime. Iranische Sicherheitskräfte hatten dem 27-Jährigen am 30. September 2022 in Zahedan, dem „blutigen Freitag“ in der Stadt in der südöstlichen Provinz Sistan-Belutschistan, in den Rücken geschossen und ihn verbluten lassen. Nach seinem Tod verbreiteten Angehörige ein Foto von ihm, das vor etwa einem Jahr entstanden soll. Es zeigt Khodanur Lajai bei einer ungewöhnlichen Protestaktion gegen die iranische Staatsgewalt in Zahedan: Mit Handschellen an einen Fahnenmast gefesselt. Ihm zu Ehren wiederholten zahlreiche Studierende die Aktion.
Hubschrauber über Bokan, Mahabad und Seqiz
In Bokan ist eine Menschenmenge vor den Sitz des örtlichen Gouverneurs gezogen und hat lautstark die Forderung des Volksaufstands skandiert: „Nieder mit dem Regime – Systemwechsel jetzt.“ Sowohl in Bokan als auch in Mahabad und Seqiz kreisen Militärhubschrauber im Tiefflug über den Protestierenden. Bei abendlichen Protesten sollen zwei Demonstranten von iranischen Regimekräften getötet worden sein.
Hunderte Tote seit Beginn des Aufbruchs in Iran
Seit 60 Tagen wird Iran inzwischen von der revolutionären Welle erfasst. Gerade Frauen und junge Menschen stellen sich dem iranischen Regime entschieden entgegen. Der Klerus geht brutal gegen die Demonstrierenden vor. Laut Menschenrechtsgruppen sind bereits mindestens 330 Menschen getötet worden, über 15.000 Menschen wurden verhaftet. Auch wurden erste Todesurteile gegen Demonstrant:innen verhängt. Mindestens 66 der Todesopfer kamen in Ostkurdistan ums Leben, unter ihnen auch Frauen und Kinder. Die aktuelle Zahl der inhaftierten Protestierenden in Ostkurdistan beläuft sich auf über 4.300.
UNO fordert Freilassung tausender Demonstrierender
Das UN-Menschenrechtsbüro hat indes die politische Führung Irans zur Freilassung tausender Teilnehmer:innen an Protesten aufgefordert. Die Anklagen gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten sollten fallengelassen werden, sagte der Sprecher des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Jeremy Laurence in Genf. Zugleich kritisierte er eine fehlende Gesprächsbereitschaft der iranischen Führung.
„Anstatt Raum für Dialog über berechtigte Klagen zu schaffen, reagieren die Behörden mit zunehmender Härte auf die beispiellosen Proteste“, sagte Laurence. Zudem warnte er, die iranische Justiz könnte zahlreiche Todesurteile verhängen. Gegen mindestens zehn Menschen seien wegen der Teilnahme an den Protesten Anklagen erhoben worden, auf die die Todesstrafe stehe, darunter „Krieg gegen Gott“ und „irdische Zerstörung“ womit die Zerstörung öffentlichen Eigentums gemeint ist.
Im UN-Menschenrechtsrat unternahmen Deutschland und Island einen Vorstoß für eine Faktenfindungskommission. Dieses Team aus unabhängigen Rechtsexpert:innen soll Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen gegen den Iran seit dem 16. September prüfen. Dem Menschenrechtsrat gehören 47 Mitgliedsländer an. Er tritt am 24. November zu einer Sondersitzung zusammen.