Die ärztliche Friedensorganisation IPPNW fordert die Bundesregierung auf, sich gegenüber der Türkei für einen sofortigen Stopp der türkischen Artillerieeinsätze in Nordsyrien einzusetzen. Die Bundesregierung solle sich neben der Forderung nach einer Öffnung der Grenzen zwischen Türkei und Syrien zudem für die Aufhebung der westlichen Sanktionen gegen Syrien einsetzen. Das Embargo der USA und EU gegen Syrien treffe die Zivilbevölkerung im ganzen Land. Auch der Chef des syrischen Halbmondes, Khaled Habubati, hat die EU zur Aufhebung ihrer Sanktionen und zu Hilfslieferungen aufgerufen.
„Wir sind erschüttert über die verheerenden Folgen des Erdbebens für die Menschen in der Türkei und in Syrien. Es wäre ein Gebot der Menschlichkeit, dass die Türkei wenigstens in dieser Situation den Krieg unterbricht und die Grenzübergänge nach Syrien für Hilfslieferungen öffnet“, erklärt die IPPNW-Vorsitzende Dr. med. Angelika Claußen.
Die Katastrophe kam in der Nacht: Gleich zwei schwere Erdbeben der Stärke 7,7 bis 7,8 erschütterten am Montagfrüh das Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien, gefolgt von einem weiteren Beben der Stärke 7,6 am Mittag. In beiden Ländern zählten die Behörden bis zur Nacht auf Samstag mehr als 24.000 Tote und 85.000 Verletzte. Alleine in der Türkei wurden bis zuletzt 20.665 Tote und 80.052 Verletzte gezählt. Aus Syrien wurden 3.500 Tote gemeldet. Doch nicht einmal 24 Stunden nach dem Erdbeben kam es zu türkischen Artillerieangriffen auf die Stadt Tel Rifat im nordsyrischen Kanton Şehba. Legitimiert wurden die Angriffe mit Meldungen angeblicher Attacken durch die Volksverteidigungseinheiten (YPG). Dabei handelt es sich um eine immer wieder vorgeschobene Argumentation, um den Terror gegen die Bevölkerung der Autonomieregion zu rechtfertigen. Die YPG und andere Kampfverbände wiesen die Anschuldigungen umgehend zurück.
„Bereits vor dem Erdbeben stand ganz Nordsyrien, auch das Gebiet der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien (Rojava) vor einer humanitären Katastrophe. Zehn Jahre Krieg, das Embargo und die seit zwei Jahren andauernden Kriegshandlungen der Türkei haben viel Infrastruktur zerstört, darunter Krankenhäuser, die Landwirtschaft sowie die Strom- und Wasserversorgung“, betont Claußen. „Nun strömen weitere Flüchtlinge aus den vom Erdbeben am schlimmsten betroffenen Gebieten - vor allem aus Afrin und Aleppo - nach Rojava, weil die dortige Verwaltung zumindest versucht, die Menschen zu versorgen. Es kommen keinerlei Hilfsgüter an, weil die Grenze zur Türkei und die Grenze zum Irak geschlossen sind und auch die Regierung Assad es ablehnt, mit der kurdischen Selbstverwaltung zu kooperieren. In Rojava müssen zudem 50.000 Gefangene aus dem IS-Umfeld in Gefängnissen und Lagern versorgt werden“, so Claußen.
Auch in der Türkei gebe es wenig Hilfe für die vom Erdbeben betroffenen Gebiete, erklärt die Ärztin. „Präsident Erdogan versucht zurzeit, jegliche Unterstützung unter staatliche Kontrolle zu bringen, was die Hilfe verzögert und die lokalen Hilfsorganisationen ausbremst, denn sie sind verpflichtet, bereits gesammelte Spendengelder an die staatlichen Institutionen abzugeben.“
Mitglieder der IPPNW verfolgen die Situation in den kurdischen Gebieten in der Türkei, im Irak und in Syrien seit Jahren und versuchen, zivile Strukturen vor Ort zu unterstützen und mit der Kurdistan-Hilfe Hamburg und Medico International humanitäre Hilfe für die von Krieg und wirtschaftlicher Not betroffene Bevölkerung zu leisten.
„Wir haben in Nordostsyrien (Rojava) ein politisches System kennengelernt, das die Todesstrafe abgeschafft hat, das die gesamte Bevölkerung - etwa fünf Millionen, vornehmlich Kurden und Kurdinnen, aber auch Menschen arabischer, christlich-aramäischer, turkmenischer und anderer Volkszugehörigkeit - demokratisch in Entscheidungsprozesse einbezieht und Frauen eine gleichberechtigte Position ermöglicht“, erklärt IPPNW-Mitglied Dr. Gisela Penteker. „Ähnliche Ansätze gibt es auf lokaler Ebene auch schon lange in der Türkei, wo den Menschen, insbesondere Kurden und Kurdinnen, jedoch bei jeder öffentlichen Aktivität massive staatliche Repression droht.“