Immer mehr Familien treffen in Şehba ein

Im nordsyrischen Niemandsland Şehba treffen immer mehr Erdbeben-Betroffene aus den kurdischen Stadtteilen von Aleppo ein. Dort aber wächst die Verzweiflung: Regime und Besatzungsmacht blockieren weiterhin die Durchfahrt für Hilfstransporte.

Die Zahl der Toten nach den Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist alleine in der Türkei auf 19.338 gestiegen. Mehr als 77.700 Menschen seien verletzt worden, sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Freitag in Meletî (tr. Malatya). Aus Syrien wurden zuletzt 3.384 Tote gemeldet. Somit wurden nun mindestens 22.722 Todesopfer in beiden Ländern gezählt, wobei viele weitere befürchtet werden.

23 Millionen Menschen sind von den Erdbeben betroffen - fast 10,9 Millionen davon in Syrien. Dort hat die Katastrophe neben Hama, Latakia und Tartus vor allem das dschihadistisch beherrschte Idlib, das von der Türkei und islamistischen Verbündeten besetzte Efrîn und die vom Regime kontrollierte Provinz Aleppo getroffen – Regionen, die bereits besonders unter Kriegen, Besatzung und Invasionen gelitten haben. In den kurdischen Stadtteilen Şêxmeqsûd und Eşrefiyê im Norden von Aleppo setzen ausbleibende Hilfe, Kälte und Hunger den Betroffenen immer mehr zu. Aus Angst vor Nachbeben sind inzwischen 2.500 Familien in die Şehba-Region gekommen, doch auch dort wächst die Verzweiflung.

Durchfahrt für Hilfstransporte wird noch immer blockiert

Am Donnerstag hatte sich ein von der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES) organisierter Hilfskonvoi auf den Weg in die nordsyrischen Erdbebengebiete gemacht. Die Lastwagen transportierten Lebensmittel, Wasser und Decken, aber auch Benzin, Medikamente und warme Kleidung. Das Ziel war nicht nur das Autonomiegebiet, die Hilfe sollte auch die besetzten bzw. vom Regime kontrollierten Gebiete erreichen. Doch es gibt „bürokratische“ Hindernisse: Sowohl Ankara als auch Damaskus verweigern die Durchfahrt für Hilfstransporte. Dabei werden die Nothilfegüter dringend benötigt. Denn es fehlt an allem – etwa an Decken, Zelten und warmer Kleidung, aber auch an Treibstoff zum Heizen und zur Stromerzeugung.

LKWs und Tankwagen mit Hilfslieferungen aus der AANES

Embargo gegen Şehba verschärft sich durch Erdbeben

In Şehba ist die Lage ohnehin dramatisch. Die wüstenähnliche Region grenzt an das syrische Gouvernement Aleppo. Hunderttausende Menschen sind dort zwischen der türkisch-dschihadistischen Besatzungszone und dem Damaszener Regime eingekesselt. Ein großer Teil der Bevölkerung stammt aus dem zerschlagenen Kanton Efrîn, die nach der türkischen Invasion vor fünf Jahren in fünf großen Lagern und verlassenen Dörfern Unterschlupf fand. Mit mehreren Gesundheitsposten und Mitarbeitenden, die größtenteils den Exodus aus Efrîn mitgemacht haben, verteilt die kurdische Rothalbmondorganisation Heyva Sor a Kurd Nahrungsmittel und Haushaltsgeräte und sorgt unter schwierigsten Bedingungen für die medizinische Grundversorgung der Flüchtlinge und ansässigen Bevölkerung. Doch die türkische Invasion einerseits und das vom Regime auferlegte Embargo stellen das basisdemokratisch organisierte Gesundheitssystem vor schier unlösbare Aufgaben. Mit dem Erdbeben verschlechtert sich die ohnehin schon problematische Situation.

Exekutivrat der AANES besucht am Freitag ein Lager in Şehba

Unklar, ob IOM-Hilfe in AANES ankommt

Am Freitag trafen nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) 14 Lkw aus der Türkei mit Hilfsgütern im Norden Syriens ein. Sie hatten unter anderem Heizgeräte, Zelte und Decken für Menschen in Idlib geladen. Ob die Hilfe auch nach Efrîn und nach Şehba gelangen wird, ist aber unklar. Syrische Staatsmedien meldeten zwar, die Regierung habe Hilfslieferungen inzwischen auch in Gebiete außerhalb ihrer Kontrolle genehmigt. Diese sollten aber in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Roten Kreuz, dem syrischen Roten Halbmond und der UNO organisiert werden. Anderweitige Grenzöffnungen auf türkischer Seite fanden bislang nur zwei Mal statt - für die Übergabe der Leichen von Menschen aus Rojava, die bei dem Erdbeben in der Provinz Dîlok (tr. Antep) ums Leben gekommen sind.

UNO geht Nahrungsmittelvorrat aus

Das UNO-Welternährungsprogramm (WFP) machte derweil auf die katastrophale Versorgungslage in der Region aufmerksam: Laut eigenen Angaben gehen die Vorräte im Nordwesten Syriens aus. Um die Lager wieder auffüllen zu können, müssten weitere Übergänge an der Grenze zur Türkei geöffnet werden, forderte WFP-Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika, Corinne Fleischer, in Genf. „Der Nordwesten Syriens, wo 90 Prozent der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, ist ein großes Problem. Wir haben die Menschen dort erreicht, aber wir müssen unsere Vorräte wieder auffüllen.“

USA lockern Sanktionen gegen Syrien

Die USA haben derweil angekündigt, für dringend benötigte humanitäre Hilfe in Syrien 85 Millionen Dollar bereitzustellen. Die Hilfe solle unter anderem Lebensmittel, Unterkünfte, Medizin und Versorgung von Familien umfassen, schrieb US-Präsident Joe Biden auf Twitter. „Unsere Herzen sind bei den Menschen in der Türkei und Syrien“, fügte er hinzu.

Damit die Erdbebenhilfe für Syrien trotz der Sanktionen gegen Assad möglich ist, erlaubte das US-Finanzministerium für eine Dauer von 180 Tagen alle entsprechenden Transaktionen. Diese Lockerung werde nicht die langjährigen strukturellen Herausforderungen und die brutalen Taktiken des Assad-Regimes rückgängig machen, sagte Wally Adeyemo, der stellvertretende Finanzminister, in einer Mitteilung. Sie könne aber sicherstellen, dass Sanktionen die jetzt benötigte lebensrettende Hilfe nicht behinderten.