Ankara und Damaskus blockieren Hilfslieferungen der AANES

Die Autonome Administration Nord- und Ostsyriens wirft Ankara und Damaskus vor, Hilfslieferungen an die vom Erdbeben betroffene Bevölkerung zu blockieren. Zudem fordert die Selbstverwaltung die Öffnung aller Grenzübergänge.

Die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) hat den Regierungen in Ankara und Damaskus vorgeworfen, Hilfslieferungen in die syrischen Erdbebengebiete zu blockieren. Ein Hilfskonvoi mit rund 100 Fahrzeugen, darunter dutzende Tankwagen mit Kraftstoff sowie LKWs mit Lebensmitteln, Trinkwasser, Medikamenten und warmer Kleidung warte derzeit in der Ortschaft Umm al-Julud zwischen Manbidsch (Minbic) und Dscharablus (Cerablus) auf eine Genehmigung, die informelle Grenze zwischen der Autonomieregion und der türkischen Besatzungszone zu passieren, sagte die Exekutivratsvorsitzende Bêrîvan Xalid am Donnerstag in Raqqa. Die kurdische Politikerin forderte ungehinderten Zugang zum syrischen Erdbebengebiet. Dringend benötigte Hilfe für die Zivilbevölkerung müsse ungeachtet von politischen und ideologischen Unterschieden oder kriegsbedingten Interessen schnell und direkt zu den Erdbebenopfern kommen. „Nothilfe darf nicht politisiert werden“, so Xalid.

Die Gesamtzahl der Toten nach dem verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist indes in beiden Ländern auf fast 20.000 gestiegen. Allein in der Türkei starben laut jüngsten Angaben mindestens 16.546 Menschen, mehr als 66.000 wurden verletzt. In Syrien kamen nach bisherigem Stand 3.317 Menschen ums Leben, über 5.000 weitere sind verletzt. Das Erdbeben der Stärke 7,8 mit Epizentrum in der kurdischen Provinz Gurgum (tr. Maraş) hatte das türkisch-syrische Grenzgebiet Montagfrüh erschüttert. Es wird befürchtet, dass die Zahl der Opfer weiter steigt.

Der Exekutivrat der AANES hat die Bevölkerung in der Autonomieregion heute nochmals aufgerufen, sich an der Hilfskampagne für die Menschen im Erdbebengebiet zu beteiligen.


In Syrien sind fünf Provinzen von dem Beben betroffen: das dschihadistisch beherrschte Idlib, die türkisch besetzte Region Efrîn und die vom Assad-Regime kontrollierten Gebiete rund um Aleppo. Etwas weniger verheerend war das Beben in den drei Provinzen Latakia, Tartus und Hama, die ebenfalls unter Regimekontrolle stehen.

In Efrîn ist vor allem der Kreis Cindirês schwer getroffen worden. Auf der Suche nach Verschütteten dort sind vor allem Rettungsteams des türkischen Staates im Einsatz. Diese kümmern sich aber hauptsächlich um die verschütteten Angehörigen der nach der Besatzung vor fünf Jahren angesiedelten Dschihadisten - die ursprüngliche Bevölkerung wird vernachlässigt. Das gilt auch für die medizinische Versorgung von Verletzten in den Krankenstationen in der türkischen Besatzungszone.

In den selbstverwalteten Stadtteilen Şêxmeqsûd und Eşrefiyê im nördlichen Aleppo sind in Folge des Erdbebens am Montag sechs Menschen ums Leben gekommen, darunter mehrere Kleinkinder. Aus Angst vor Nachbeben sind 1200 Familien in die Şehba-Region geflohen, in der seit 2018 bereits Hunderttausende Binnenflüchtlinge aus Efrîn leben. Sie werden in Auffanglagern und in Dörfern im Kreis Şêrawa, der noch nicht vollständig von der Türkei besetzt ist, von der AANES betreut. Die humanitäre Lage in Şehba ist jedoch aufgrund eines vom Assad-Regime verhängten Embargos ohnehin seit Monaten äußerst prekär. Ein Teil der humanitären Hilfe, die in Manbidsch aufgehalten wird, soll auch dort ankommen.

Mitarbeiter von Heyva Sor a Kurd beim Aufbau von Zeltstädten für Erdbebenopfer aus Şêxmeqsûd und Eşrefiyê. Bislang sind mehr als 70 solcher Unterkünfte für Menschen aus den nordsyrischen Erdbebengebieten in der AANES errichtet worden: 8 am Rande von Şêxmeqsûd, 2 in Şehba, jeweils 13 in Kobanê und Raqqa, 5 in Tabqa, 10 in Hesekê, 18 in Qamişlo und 5 in Minbic. Da viele Menschen sich fürchten, in ihre Häuser zurückzukehren, und das Regime das Embargo nicht lockert, geht die Rothalbmondorganisation davon aus, dass viele Bewohnerinnen und Bewohner der kurdischen Stadtteile Aleppos zu dauerhaften Flüchtlingen werden.


Die AANES hat derweil ihre Forderung an die Vereinten Nationen (UN) wiederholt, sich für eine umgehende Öffnung aller Grenzübergänge nach Syrien einzusetzen. „Die internationale Gemeinschaft muss auf die Regierungen in Ankara und Damaskus einwirken, damit möglichst schnell weitere Grenzübergänge geöffnet werden und dringend benötigte Hilfe bei den Menschen im Katastrophengebiet ankommt“, sagte Bêrîvan Xalid. Vor allem der syrisch-irakische Grenzübergang Til Koçer (Al-Yarubiyah) müsse umgehend für humanitäre Hilfslieferungen freigegeben werden.

Der von der irakischen Armee kontrollierte Grenzübergang Til Koçer ist 2018 auf Drängen Russlands mit Beschluss des UN-Sicherheitsrats geschlossen worden. Auch jetzt blockieren das Assad-Regime und Russland als Schutzmacht Syriens das Öffnen der Grenzübergänge. Bab al-Hawa ist der einzige offene von ursprünglich vier Grenzübergängen aus der Türkei nach Syrien. Dort passierten heute zwar sechs Lastwagen mit Hilfsgütern der Vereinten Nationen die Grenze; allerdings handelt es sich um Hilfslieferungen, die schon vor dem Erdbeben geplant und nur davon aufgehalten wurden.