Der HDP-Abgeordneten Semra Güzel soll die parlamentarische Immunität entzogen werden. Ein entsprechender staatsanwaltschaftlicher Voruntersuchungsbericht wurde dem türkischen Justizministerium in Blitzgeschwindigkeit vorgelegt. Die Vorarbeit hierzu leistete eine medial aufwendige und staatlich gelenkte Diffamierungskampagne gegen die kurdische Politikerin und Ärztin, deren Startschuss am Wochenende in regierungsnahen Blättern fiel. In digitalen Netzwerken übernimmt die regierungshörige Trollarmee von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan die Hetze gegen Güzel.
Grundlage des angestrebten Verfahrens zur Aufhebung der Immunität von Semra Güzel sind Fotos, welche die 38-Jährige mit dem Guerillakämpfer Volkan Bora (Nom de Guerre: Koçero Meletî), der im April 2017 bei Luftangriffen in der nordkurdischen Provinz Semûr (tr. Adıyaman) ums Leben kam, zeigen. Die Aufnahmen entstanden im Jahr 2014 in einem Guerillacamp in Südkurdistan, während den Friedensverhandlungen zwischen dem türkischen Staat und der PKK. Die Reise dorthin und der Besuch bei Bora, mit dem Güzel als Studentin verlobt war, sei nach Angaben der Politikerin „im Wissen des Staates und seiner Behörden“ geschehen. „Doch obwohl die Bilddateien seit bald fünf Jahren in den Archiven der Sicherheitsbehörden lagern, werden sie erst jetzt verbreitet und als Grundlage für Verleumdungen und Hetze verwendet“, stellt Güzel fest.
Die Abgeordnete sprach von einer „perfiden Rufmordkampagne“ und einem „sexistischen Zermürbungskrieg“ gegen ihre Person als Folge der frauenfeindlichen Politik der AKP-Regierung. Sie werde unter der Ägide des Regimes „öffentlicher Diffamierung, gesellschaftlicher Ächtung und Lynchjustiz“ ausgesetzt. Dies werde sie nicht auf sich sitzen lassen, zeigte sich die Politikerin entschlossen. „In jedem Fall wird diese Aktion ein juristisches Nachspiel haben, für alle Verantwortlichen und Beteiligte.“
Verfahren wegen staatsfeindlicher Aktivitäten
Der mit einem Antrag zur Genehmigung der Strafverfolgung gegen Güzel versehene Voruntersuchungsbericht der Oberstaatsanwaltschaft von Ankara liegt seit Montag im Justizministerium. Auf welchen Paragrafen sich der Ermittlungsbericht bezieht, ist zwar unklar. Da aber nur Verfahren nach Artikel 301 und 302 von der Ermächtigung des Justizministers abhängig sind, läuft es auf eine Klage wegen „staatsfeindlicher Aktivitäten“ hinaus. Der Parlamentspräsident Mustafa Şentop sprach sich am Montag in der Nationalversammlung dafür aus, bei „verfassungsfeindlichen Straftaten“ die Immunität von Abgeordneten „ohne Wenn und Aber“ aufzuheben, um eine sofortige Strafverfolgung zu ermöglichen.
Güzel droht bei Verurteilung langjährige Haftstrafe
Bei Artikel 301 handelt sich vermutlich um das bekannteste türkische Gesetz in Europa. Bis 2008 regelte er noch die „Beleidigung des Türkentums“, auf Druck der EU wurde das Gesetz einer Reform unterzogen. Bei einem Verstoß drohen Haftstrafen zwischen sechs Monaten und zwei Jahren, in Kombination mit der Antiterrorgesetzgebung läuft es nicht selten auf das zehnfache hinaus. Artikel 302 hingegen, der das „Zerstören der Einheit und Integrität des Staates“ unter Strafe stellt, dürfte der schwerwiegendste im türkischen Strafgesetz sein. Im Gesetzestext heißt es: „Wer die territoriale Integrität des Staates vollständig bzw. teilweise unter die Souveränität eines fremden Staats stellt, die Einheit des Staates zerstört, einen Teil des Staatsgebietes abtrennt sowie Taten begeht, die die Unabhängigkeit des Staats schwächen, wird zu einer erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.“ Eine Bestrafung nach Artikel 302 setzt zwar in jedem Fall eine Gewaltanwendung voraus. In zahlreichen Fällen, etwa bei Überlebenden der Militärbelagerung in kurdischen Städten in den Jahren 2015 und 2016 oder syrischen Staatsangehörigen, die im Verlauf der Invasionen in Rojava von türkisch-dschihadistischen Besatzungstruppen in die Türkei verschleppt und dort nach Artikel 302 zu Haft bis zum Tod verurteilt worden sind, trafen die Gerichte ihre Entscheidungen entgegen Beweisen, die gegen eine Gewaltanwendung sprachen.
Immunitätsentzug zur „Terrorismusprävention”
Im Mai 2016 hatte das türkische Parlament einer von der islamistischen Erdoğan-Partei AKP initiierten Verfassungsänderung zur „Terrorismusprävention” zugestimmt und damit den Weg zur vorübergehenden Strafverfolgung von Abgeordneten freigemacht. Betroffen von dem Immunitätsentzug waren damals insgesamt 154 Parlamentsmitglieder, mehr als ein Drittel davon Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Unmittelbar nach der Verfassungsänderung wurden zahlreiche Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder der Opposition eingeleitet. Die losgetretene Repressionswelle fand mit der Verhaftung von zehn HDP-Abgeordneten, darunter den damaligen Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, am 4. November 2016 ihren vorläufigen Höhepunkt. Expert:innen befürchten mit Blick auf den Umgang mit Semra Güzel, dass es erneut auf eine parlamentarische Initiative zur sogenannten Terrorismusprävention hinausläuft, um die unliebsame Opposition aus dem Weg zu räumen. Gegen alle Mitglieder der HDP-Fraktion liegen dutzende Ermittlungsberichte mit dem Ziel der Immunitätsaufhebung vor.