Göksungur: Wir werden für unsere Gefallenen eintreten und ihnen würdig sein

Die Ko-Vorsitzende des Europadachverbands KCDK-E, Fatoş Göksungur, ruft auf, am 3. und 7. Januar zum Protest und zur Überführung der beim Paris-Massaker Ermordeten nach Paris zu kommen.

Am 23. Dezember 2022 wurde Evîn Goyî, Exekutivratsmitglied der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), zusammen mit dem kurdischen Musiker Mîr Perwer und dem langjährigen Aktivisten Abdurrahman Kızıl bei einem Attentat in Paris erschossen. Im ANF-Gespräch äußert sich die Ko-Vorsitzende des Europadachverbands KCDK-E, Fatoş Göksungur, zu dem Anschlag und ruft zum Protest auf.

Verschleierungstaktik beim ersten Pariser Massaker machte es dem MIT leicht“

Göksungur erinnert an das Massaker von Paris am 9. Januar 2013, bei dem die kurdischen Revolutionärinnen Sakine Cansız (Sara), Fidan Doğan (Rojbîn) und Leyla Şaylemez (Ronahî) vom türkischen Geheimdienst MIT wurden: „Am 9. Januar 2013 wurden drei kurdische Revolutionärinnen mitten in Paris ermordet. Seitdem sind zehn Jahre vergangen. Zehn Jahre lang haben der französische Staat, die französische Justiz und der türkische Staat dieses Massaker nicht aufgeklärt und versucht, den Fall durch den verdächtigen Tod, ja die Ermordung des Schützen im Gefängnis, zu vertuschen. Seit zehn Jahren sind kurdische Frauen, Menschen aus Kurdistan und Frauenbewegungen in der ganzen Welt auf die Straße gegangen, um die Hintermänner dieses Massakers zu entlarven.

Daraufhin nahm der französische Staat das Verfahren wieder auf. Diesmal wurde es jedoch zum Staatsgeheimnis erklärt, indem eine Vertraulichkeitsverfügung über die Akte verhängt wurde. Obwohl der Mörder und die hinter ihm stehenden Kräfte bekannt waren, wurde Geheimhaltung angeordnet. Dieses Vorgehen zog den Zorn der kurdischen Frauen und des kurdischen Volkes auf sich. Zehn Jahre später, als die Vorbereitungen zum zehnten Jahrestag dieses Massakers liefen, fand in Paris ein zweiter Anschlag statt. Da das erste Massaker nicht aufgeklärt wurde, konnte der türkische Staat ganz entspannt mit Hilfe des MIT einen Auftragsmörder finden und ihn Kurd:innen erschießen lassen. Durch die Ermordung kurdischer Frauen wird versucht, das ganze Volk niederzuhalten.“

Konflikt zwischen zwei Fraktionen im französischen Staat“

Göksungur spricht von zwei verschiedenen Fraktionen im französischen Staat, deren Konflikt sich in dem Verfahren zeige: „Dass dieses Massaker möglich war, hängt auch mit der Haltung Frankreichs zusammen. Seit dem Anschlag am 23. Dezember sind sich die französische Öffentlichkeit, die französische Presse, die kurdischen Frauen, die kurdische Diaspora, die sozialistischen Bewegungen, die Frauenbewegungen in der ganzen Welt und französische Freundinnen und Freunde mit uns einig, dass es sich hier um eine Fortsetzung des Pariser Massakers von 2013 handelt. Die französische Staatsanwaltschaft und einige Behörden wollen jedoch beharrlich behaupten, dass es sich bei diesem Massaker um einen rassistischen Angriff eines Einzeltäters handelte. Die Tatsache, dass der Mörder mit der Begründung, er sei ‚psychisch gestört‘, in ein Krankenhaus eingeliefert und dann nach den Protesten wieder verhaftet wurde, hat uns natürlich zu folgenden Überlegungen gebracht: Innerhalb des französischen Staates gibt es zwei Fraktionen. Eine Fraktion ist mit dem tiefen Staat und Gladio verbunden. Diese Fraktion versuchte zu beweisen, dass der Mörder psychisch labil war, und ließ ihn in eine Klinik einweisen. Auf der anderen Seite Macron und der Innenminister, die sagen, dass der französische Staat ein Rechtsstaat sei ... Diese zweite Fraktion wiederum versucht, anstatt das Massaker zu vertuschen, zu beweisen, dass der Mörder geistig stabil ist und vor Gericht gestellt werden sollte. Im Moment sind diese beiden Fraktionen zerstritten. Wir haben keine konkreten Informationen, aber das zeigt uns die aktuelle Situation.“

Tweet des türkischen Botschafters kommt Selbstanzeige gleich“

Göksungur weist darauf hin, dass der türkische Staat seit dem 23. Dezember Druck aufzubauen versucht, um eine Aufklärung zu verhindern. Durch politischen Druck sollen die europäischen Staaten zur Verfolgung derjenigen genötigt werden, welche die Morde von Paris mit dem türkischen Staat in Verbindung brachten, so Göksungur: „Wenn wir uns die Maßnahmen des türkischen Staates ansehen, sehen wir, dass diese darauf abzielen, das Massaker zu vertuschen. Der türkische Staat versucht, Druck auf Frankreich aufzubauen. Beim Twitter-Post des türkischen Botschafters in Paris handelt es sich in Wirklichkeit einen Vertuschungsversuch. Er sagt: ‚Wenn die Aktivitäten der PKK in Paris gestoppt und verboten werden, dann wird es solche Massaker nicht geben‘. Das ist nichts anderes als ein Geständnis. Die französischen Justizbehörden sollten diesen Tweet als Selbstanzeige akzeptieren. Es gibt auch eine Menge Namen, die im Umlauf sind. Wir wissen nicht, was daran wahr ist oder nicht, aber die Staatsanwaltschaft muss dem nachgehen.

Die kurdische Frauenbewegung war das Ziel des Massakers“

Bereits vor zehn Jahren wurde versucht, das damalige Massaker zu vertuschen, ohne die Gerichtsverfahren abzuschließen. Die Staatsanwaltschaft sollte an diesem Punkt vorsichtig sein. Dieses Thema ist sehr heikel, denn die Kurdinnen und Kurden haben inzwischen die Nase voll von solchen Aussagen. Niemand sollte sich über uns lustig machen. Ziel dieser Massaker sind kurdische Frauen, die kurdische Frauenbewegung, die für die Freiheit kämpft. Wenn wir uns das AKP/MHP-Regime anschauen, sehen wir, dass es einen vollkommen faschistischen, monistischen, diktatorischen, frauenfeindlichen, demokratiefeindlichen, volksfeindlichen und fundamentalistischen Charakter hat. Die seit 100 Jahren bestehende offizielle Ideologie des türkischen Staates beruht auf dieser Logik. Der Staat nährt und fördert nicht umsonst den IS.“

Evîn hat Frankreich geschützt, aber Frankreich hat Evîn nicht geschützt“

Göksungur weiter: „Heval Evîn kämpfte in Rojava gegen den IS und spielte eine Rolle bei seiner Niederlage. Kurdische Frauen haben gegen diese von allen gefürchtete Truppe gekämpft und sie besiegt. Heval Evîn ist eine Heldin, die im Krieg gegen den IS an vorderster Front kämpfte, als Kommandantin diente und die Menschheit vor diesem Albtraum rettete. Das müssen wir begreifen. Sie war zur Behandlung nach Paris, nach Frankreich, gekommen. Seit Tagen gibt es Erklärungen dazu. So titelte beispielsweise die Zeitung Libération: ‚Evîn hat Frankreich geschützt, Frankreich konnte Evîn nicht schützen‘. Das ist sehr bemerkenswert und eine Schande für Frankreich.

Überall auf der Welt versucht das kapitalistische System, die Gesellschaften durch die Unterwerfung der Frauen zu kontrollieren. Durch den Angriff auf Frauen soll der gesellschaftliche Widerstand gebrochen werden. Mit der Ermordung von Jina Amini im Iran vor einigen Monaten ist die von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] geprägte Prämisse ‚Jin Jiyan Azadî‘, welche die kurdische Frauenbewegung mit ihrem Widerstand und ihrer Philosophie seit Jahren mit Leben füllt, zu einer Parole von Frauen auf der ganzen Welt geworden. Die frauenfeindliche Politik hat Kontinuität in den staatlichen Systemen. Dieses brutale frauenfeindliche Verständnis steht im Zentrum des türkischen Staates. Aus diesem Grund wurden die kurdischen Frauen in Paris zum zweiten Mal, diesmal in Person von Heval Evîn, angegriffen. Genau wie damals bei Sakine, Fidan und Leyla.“

Wir werden für unsere Gefallenen eintreten“

Fatoş Göksungur ruft zur Teilnahme an der Verabschiedung der Ermordeten zu ihrer Überführung nach Kurdistan am 3. Januar in Paris und zur Demonstration am 7. Januar auf: „Am 3. Januar werden wir die Leichen der Gefallenen Evîn Goyî, Mîr Perwer und Abdurrahman Kızıl mit einer Zeremonie nach Kurdistan verabschieden. Viele Französinnen und Franzosen, insbesondere aus Paris und Umgebung, werden an der Trauerfeier teilnehmen. Unser Aufruf richtet sich an unser ganzes Volk. Wir erwarten alle Menschen aus Kurdistan und ihre Freundinnen und Freunde zu der Gedenkveranstaltung, die am 3. Januar in Paris stattfinden wird. So wollen wir für unsere Gefallenen eintreten und ihnen würdig sein.“

Am 7. Januar nach Paris“

Göksungur ruft auch zum Protest am 7. Januar, zum zehnten Jahrestag des ersten Pariser Massakers, auf: „Am 7. Januar wird die Gedenkdemonstration stattfinden, die von Heval Evîn vorbereitet worden war. An der Gedenk- und Abschiedsfeier am 3. Januar werden unser Volk aus Paris und Umgebung sowie diejenigen teilnehmen, die in verschiedenen europäischen Ländern leben und deren Lebensumstände es zulassen. Am 7. Januar werden Menschen aus ganz Europa an der Demonstration teilnehmen. Diejenigen, die kommen möchten, können sich bei unseren Organisationen in ihren Ländern melden. Wir rufen unser ganzes Volk auf, an diesen beiden Veranstaltungen im Geist des Widerstands teilzunehmen.“