Am 9. Januar 2023 werden zehn Jahre vergangen sein, seitdem die kurdischen Revolutionärinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez mitten in Paris von einem Auftragsmörder des türkischen Geheimdienstes erschossen worden sind. Bis heute ist niemand für das Attentat zur Rechenschaft gezogen worden: Der Prozess gegen den Todesschützen wurde eingestellt, nachdem der Angeklagte kurz vor Prozessbeginn unter zweifelhaften Umständen in Haft verstorben ist. Auf Drängen der Angehörigen der ermordeten Frauen wurde zwar ein neues Ermittlungsverfahren eingeleitet. Das aber stockt auf politischen Druck, da die Akte als Staatsgeheimnis behandelt wird.
„Die Mörder sind bekannt“
„Die Mörder sind bekannt. Die Geheimhaltung hinsichtlich der Ermittlungen muss aufgehoben werden, damit die Verantwortlichen des Attentats endlich Rechenschaft ablegen“, fordern die Kurdische Frauenbewegung in Frankreich (TJK-F) und der Demokratische Kurdische Rat (CDK-F). Anlässlich des zehnten Jahrestags der Morde organisieren die Verbände eine Reihe von dezentralen und regionalen Aktivitäten, mit denen die politischen Verantwortlichen zur Lüftung des Staatsgeheimnisses gedrängt werden sollen. Das kündigten Vertreter:innen am Sonntag in Paris an.
„Ein Angriff auf alle Frauen“
Die Veranstaltungen stehen unter der Losung „Staatsgeheimnis aufheben, zehn Jahre Straffreiheit beenden!“, hieß es. Eine Sprecherin verlas eine gemeinsame Stellungnahme, in der Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez als „Freiheitskämpferinnen des kurdischen Volkes und in erster Linie kurdischer Frauen” gewürdigt wurden. „Ihre abscheuliche Ermordung geschah im Auftrag des Faschisten Erdogan, mittels offener und geheimer Hilfeleistung regionaler Kräfte, durch Angehörige des türkischen Geheimdienstes. Es handelt sich um einen Angriff auf alle Kurdinnen sowie alle Frauen dieser Welt, um einen Angriff auf das kurdische Volk und alle anderen Völker. Wir erinnern uns mit inniger Liebe und tiefer Verbundenheit an unsere Freundinnen Sakine, Fidan und Leyla und verneigen uns vor ihnen. Zu ihrem 10. Todestag verurteilen wir mit großer Wut ein weiteres Mal den faschistischen türkischen Staat, der dieses Massaker geplant, beschlossen und durchgeführt hat, und alle Kräfte, auf deren Autorität und Zustimmung sich die Täter stützten. Wir verabscheuen all jene, die geschwiegen haben und nach wie vor schweigen und verhindern, dass die Verantwortlichen aufgedeckt werden.“
Das Massaker vom 9. Januar ist als schwarzer Fleck in die Geschichte Frankreichs eingegangen, hieß es weiter. „Wir kennen die Mörder. Begegnet sind wir ihnen am 9. Oktober 1998, als Abdullah Öcalan Syrien im Zuge eines NATO-Komplotts verlassen musste und am 15. Februar 1999 in einem völkerrechtswidrigen Piratenakt verschleppt wurde. Sie sind uns auch daher bekannt, weil sie Chemiewaffenangriffe des türkischen Staates gegen die Guerilla in Kurdistan und das kurdische Volk billigen. Die Türkei ist nicht die alleinige Verantwortliche dieser Angriffe; alle Mitglieder der NATO sind gleichermaßen schuldtragend.
Der französische Staat trägt die Pflicht, dafür zu sorgen, dass das Massaker vom 9. Januar aufgeklärt wird, die Verantwortlichen vor Gericht gestellt und ihnen der Prozess gemacht wird. Doch seit zehn Jahren warten wir darauf, dass die zuständigen Behörden ausreichend ernsthafte Anstrengungen zur Aufklärung unternehmen. Die Gerechtigkeit bleibt im Dunkeln. Deshalb fordern wir: Lüftet das Staatsgeheimnis, beendet diese Schande! Als kurdische Gesellschaft und kurdische Frauenbewegung werden wir nicht ruhen, ehe die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden. Mit Entschlossenheit und Wut werden wir daher auch zum zehnten Jahrestag der Massaker von Paris auf die Straßen gehen und unseren Forderungen Gehör verschaffen. Wir werden unserer Gefallenen gedenken und die Mörder verfluchen.“
Auftakt am 4. Januar
Den Auftakt der Aktionsserie macht den Angaben der Verbände eine „Gerechtigkeitswache“ von Frauen aus Kurdistan und ihren Unterstützerinnen vor dem kurdischen Informationsbüro in der Rue la Fayette, wo Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez mit Kopfschüssen hingerichtet worden waren. Am 7. Januar findet eine dezentrale Großdemonstration in Paris statt, an der sich Kurd:innen aus ganz Europa beteiligen werden. Am 9. Januar gibt es dann die offizielle Gedenkveranstaltung der Stadt Paris zum zehnten Todestag der drei Frauen, ebenfalls vor dem Kurdistan-Informationszentrum. Die TJK-F und der CDK-F rufen zur zahlreichen Teilnahme auf.