GfbV kritisiert Schweigen der Bundesregierung

Die Gesellschaft für bedrohte Völker kritisiert das Schweigen der Bundesregierung zu den türkischen Angriffen in Nord- und Ostsyrien und Südkurdistan. „Wer Putin zu Recht als Kriegsverbrecher bezeichnet, darf Erdoğan nicht in Schutz nehmen.“

Türkische Angriffswelle gegen Rojava und Südkurdistan

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) kritisiert das Schweigen der deutschen Bundesregierung zu den Angriffen des NATO-Mitglieds Türkei in Nord- und Ostsyrien und in Südkurdistan, darunter in dem vom Völkermord der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) erschütterten ezidischen Kernland Şengal (dt. Sindschar). „Diese Angriffe sind ein klarer Bruch des Völkerrechts, dessen Einhaltung die Bundesregierung zu Recht von Russland einfordert. Wir erwarten eine klare Verurteilung dieser Angriffe und ein Ende jeglicher Unterstützung für diese Angriffe“, erklärte der GfbV-Nahostreferent Dr. Kamal Sido heute in Göttingen.

Die Türkei hat am vergangenen Mittwoch eine neue Angriffswelle gegen kurdische Siedlungsgebiete in ihren Nachbarländern Syrien und Irak gestartet. Zur Begründung nannte Ankara einen Anschlag auf einen Rüstungskonzern in der Nähe von Ankara, der am selben Tag stattfand und den die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) für sich reklamierte. Ohne Beweise behauptet die Führung Erdoğans, die Angreifer:innen wären aus Nordsyrien in die Türkei „eingesickert“, und rechtfertigt die Angriffe mit „Vergeltung“ – verweist aber zugleich auf das Recht auf Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Die Zerstörung ziviler Ziele ist jedoch nicht durch das Selbstverteidigungsrecht eines Staates gedeckt und stellt ein Kriegsverbrechen dar.

QSD: Angriffswelle dient dem IS

Der Generalkommandant der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), Mazlum Abdi, wies die Behauptung der türkischen Regierung zurück, die am Ankara-Anschlag beteiligten Kämpfer:innen seien aus Syrien in die Türkei eingedrungen. Die QSD befinden sich im Krieg mit dem IS und anderen islamistischen Milizen, die von der Türkei unterstützt oder geduldet werden. Abdi vertritt die Ansicht, dass die Angriffe der Türkei faktisch eine Hilfe für den IS seien. Denn eine Schwächung der QSD erhöhe die Gefahr, dass wie bei früheren türkischen Angriffen tausende IS-Mitglieder aus den Gefängnissen ausbrechen könnten. Die QSD sind Teil der Anti-IS-Koalition und werden von den USA militärisch unterstützt. Abdi forderte sowohl die USA als auch Russland auf, die Türkei zu stoppen.

Geopolitisches Verständnis für Erdoğans Aggression?

Sowohl die NATO, vor allem die USA, als auch Russland haben Streitkräfte in der Region und überwachen den Luftraum über Syrien, betonte Sido. „Sie sind in der Lage, die Menschen vor den täglichen Angriffen der Türkei zu schützen. Aus geopolitischen Gründen haben sie jedoch Verständnis für Erdoğans Aggression gezeigt, die zu einer weiteren Destabilisierung der Region und zur Flucht von Millionen Menschen führt“, kritisierte er.

18 Tote und 68 Verletzte in Rojava

Nach aktuellen Angaben der Sicherheitsbehörde Nord- und Ostsyriens (Asayîş) sind bei den von Sido als „barbarisch“ bezeichneten Angriffen der Türkei seit dem 23. Oktober insgesamt 18 Menschen getötet und 68 verletzt worden. Die meisten Opfer sind Zivilist:innen. Die anderen sind Angehörige der Asayîş, die in der Autonomieregion für Ordnung und Sicherheit sorgen. An den türkischen Angriffen sollen bis zum 27. Oktober insgesamt 129 Kampfdrohnen und 15 Kampfflugzeuge beteiligt gewesen sein. Insgesamt habe es 1168 Angriffe auch mit Raketenwerfern, Panzern und Artillerie gegeben. Das Angriffsgebiet erstreckt sich über eine Länge von etwa 600 Kilometern von den Vororten Aleppos im Nordwesten Syriens bis zum Tigris im Nordosten des Landes an der Grenze zum Irak. Die Angriffe konzentrieren sich auf Dienstleistungszentren und andere lebenswichtige Einrichtungen und Infrastruktur wie Ölraffinerien, Wasser- und Elektrizitätswerke sowie Brotfabriken, Krankenhäuser und Polizeistationen. In Şengal forderten die Angriffe sechs Opfer in den Reihen der Widerstandseinheiten YBŞ, außerdem wurde eine Zivilistin bei einer Attacke auf ihr Haus verletzt.

Erdoğan nicht in Schutz nehmen

Die jüngsten Solidaritätsbekundungen des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz und anderer Regierungschefs von NATO-Staaten mit Erdoğan, der für seine aggressive Politik gegen Kurd:innen, Suryoye, Armenier:innen und Ezid:innen bekannt sei, würden von vielen Menschen in Nordsyrien, aber auch von ihren Angehörigen, die in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern Schutz vor Gewalt und Krieg gefunden haben, mit Empörung aufgenommen, betonte Sido. Er wurde 1961 im türkisch besetzten Efrîn (Afrin) in Nordsyrien geboren und steht in ständigem Kontakt mit den Menschen vor Ort. „Wer Putin zu Recht als Kriegsverbrecher bezeichnet, darf Erdoğan, der Krieg gegen Kurden und andere Minderheiten führt, nicht in Schutz nehmen“, forderte Sido.