Trotz eines durch das Gouverneursamt ausgesprochenen Demonstrationsverbots haben in Maraş (ku. Gurgum) zahlreiche Menschen der Opfer des Pogroms vor 43 Jahren gedacht. An dem öffentlichen Programm beteiligten sich Vertreterinnen und Vertreter alevitischer Verbände aus dem In- und Ausland, Gewerkschaften, politische Organisationen, zivilgesellschaftliche Einrichtungen und Parlamentsabgeordnete der HDP und CHP.
Das Pogrom von Maraş ereignete sich vom 19. bis zum 26. Dezember 1978 und richtete sich gegen Angehörige des alevitischen Glaubens und Linke. Die offizielle Bilanz der „Ereignisse“, für die ultranationalistische Rechtsextremisten, sogenannte „Graue Wölfe“ verantwortlich waren: 111 Tote, mehr als 1.000 Verletzte, über 200 zerstörte oder niedergebrannte Häuser, etwa 100 gebrandschatzte Geschäfte. Alevitische Verbände halten demgegenüber eine Zahl von 500 Ermordeten und sogar mehr sowie insgesamt 841 angegriffene Häuser und Läden durchaus für möglich.
Als Treffpunkt der Zusammenkunft war der zentrale Stadtteil Yörük Selim ausgesucht worden, den das Gouverneursamt wegen einer vermeintlichen „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“ durch hunderte Einsatzkräfte der Polizei hatte abschirmen lassen. Drei Kontrollpunkte mussten die Teilnehmenden passieren, um zum Startpunkt der traditionellen Demonstration zu gelangen. Der Marsch mit hunderten Menschen und einem Transparent, auf dem Fotos der Todesopfer abgebildet waren, führte unter Rufen wie „Das Pogrom von Maraş ist unvergessen“ und „Wir fordern Rechenschaft für unsere Toten“ bis zum alevitischen Gebetshaus Erenler. Dort angekommen wurde eine Schweigeminute gehalten. Hasan Kılavuz als Vorsitzender des Glaubenskomitees der Alevitisch-Bektaschitischen Föderation hielt die Eröffnungsrede und mahnte, die Erinnerung an die Opfer des Maraş-Massakers wach zu halten und für die Wahrung der Menschenwürde einzutreten. Daran anschließend folgte der Gebetstanz Semah für die Toten.
Ein Demonstrant trägt Fotos von Angehörigen, die beim Pogrom ermordet wurden
In diversen Redebeiträgen wurde festgehalten, dass Angehörige der alevitischen Glaubensgemeinschaft in der Türkei seit Jahrzehnten Gewalt, Ausgrenzung und Diskriminierung ausgesetzt sind. Der HDP-Abgeordnete Zeynel Özel erklärte, dass auch 43 Jahre nach Maraş die Diskriminierung ein Dauerthema bleibe und der Hass einiger Teile der Gesellschaft gegen Alevitinnen und Aleviten immer offener in Erscheinung trete. „Insbesondere die Mitglieder der Regierungspartei AKP und ihre treuen Schreiberlinge lassen fast keinen einzigen Tag vergehen, an dem sie nicht gegen Angehörige unseres Glaubens hetzen, um die Gesellschaft weiter zu spalten“, kritisierte der Politiker. „Sie sollen wissen, dass wir keines der Massaker vergessen werden, die gegen uns verübt worden sind. Wir werden Rechenschaft einfordern und unseren Kampf fortsetzen, solange die Auseinandersetzung mit dem Unrecht an unseren Glaubensbrüdern und -schwestern in der Geschichte dieses Landes ausbleibt und die Aufarbeitung der Geschehnisse verweigert wird. Wir werden kämpfen, bis die Orte, an denen sie begraben liegen, preisgegeben werden. Der Widerstand wird andauern, solange es kein Grab gibt, an dem wir beten können.“
Gebetstanz Semah vor dem Eingang zum Cem-Haus
Hüseyin Mat, Vorsitzender der Alevitischen Gemeinde Deutschland, forderte die türkische Regierung auf, die Bürgerrechte der Alevitinnen und Aleviten nicht länger einzuschränken und ihre Identität anzuerkennen. In der Türkei leben mindestens 14 Millionen Menschen alevitischen Glaubens. Seit Jahrzehnten kämpfen sie gegen Diskriminierung, fordern eine neue Darstellung des Alevitentums in Schulbüchern und eine offizielle Anerkennung als Glaubensgemeinschaft. Doch der türkische Staat weigert sich, den Forderungen nachzukommen; alevitische Menschen gelten weiterhin nicht als Glaubens-, sondern als Kulturgemeinschaft.
Hüseyin Mat
Nach weiteren Redebeiträgen wurden Kerzen angezündet und Nelken niedergelegt. Die Gedenkveranstaltung endete mit dem Verteilen von Lokma (Gaben) in Form von Brot.