GEA: Militärischer Eskalation in Şengal entgegentreten

Die Gesellschaft Ezidischer AkademikerInnen fordert die PDK zur Unterstützung der politischen Teilhaberechte der Bevölkerung von Şengal auf. An die UN appelliert der Verein, einer militärischen Eskalation entschieden entgegenzutreten.

Die Gesellschaft Ezidischer AkademikerInnen e.V. (GEA, ku. Civaka Akadêmîkarên Êzîdîyan) fordert die südkurdische Regierungspartei PDK (ku. Partiya Demokrata Kurdistanê, auch als KDP abgekürzt) zur Unterstützung der ezidischen Bevölkerung von Şengal in ihrem Kampf um politische Teilhaberechte auf. An die UN appelliert der in Essen ansässige Verein, einer militärischen Eskalation entschieden entgegenzutreten.

In der Erklärung der GEA heißt es:

„Mit wachsender Sorge verfolgen wir die politischen und militärischen Entwicklungen in der nordirakischen Region Shingal (Sindschar), dem größten zusammenhängenden Siedlungsgebiet der Eziden weltweit. Nach dem Beginn des Eziden-Genozids 2014 und trotz der militärischen Zurückdrängung des Islamischen Staates (IS) im darauffolgenden Jahr sind bis heute die Voraussetzungen für eine sichere Rückkehr der Eziden in ihre Heimat nicht geschaffen worden. Neben einem mangelnden Willen zu politischem und wirtschaftlichem Wiederaufbau im Sinne der lokalen Bevölkerung sind es vor allem die divergierenden Interessen der Zentralregierung in Bagdad und der kurdischen Regionalregierung in Arbil [ku. Hewlêr, ANF], die einer Stabilisierung der Region im Wege stehen.

Die Eziden sind nicht gefragt worden“

Im Oktober 2020 wurde von diesen beiden Regierungen ein Abkommen über die Zukunft der Region verabschiedet, das allerdings keine Strukturen einer föderalen Selbstorganisation und einer Selbstverteidigung für Eziden vorsieht. Diese wurden weder gefragt noch an den Verhandlungen beteiligt. Zuletzt haben Zentral- und Regionalregierung den Druck auf die ezidischen Selbstorganisationseinheiten und Sicherheitskräfte in Shingal erhöht, damit diese sich entwaffnen. Es droht eine politische und militärische Eskalation, deren Leidtragende erneut die ezidische Bevölkerung wäre. Dem muss mit aller Entschiedenheit begegnet werden. Der politische Dialog muss fortgeführt, jegliche militärische Zuspitzung vermieden und der Fokus auf gemeinsame Interessen gelegt werden.

Selbstverteidigung als Reaktion auf den Genozid“

Die politische Entwicklung in Shingal, seit dem Genozid im Sommer 2014, hat eines klar zu Tage gefördert: Die einzig denklogische und zweckmäßige Reaktion auf die verheerenden Folgen des Genozids kann nur der Aufbau und die Fortentwicklung einer ezidischen Verwaltungs- und Exekutivorganisation mit wehrhaften Selbstverteidigungsstrukturen in Shingal sein.

Eine Autonomie für Shingal innerhalb des föderalen irakischen Staates ist politisch und gesellschaftlich zwingend erforderlich und würde sich in die Realität des Vielvölkerstaates Irak gut einfügen. Dieser hat seit seiner Gründung stets auf die heterogene Bevölkerungsstruktur Rücksicht genommen, dabei aber wiederholt die großen Bevölkerungsgruppen (Schiiten, Sunniten und Kurden) begünstigt und die Minderheiten oftmals übergangen. Wenn – wie hier in Shingal – eine Bevölkerungsgruppe die weit überwiegende Mehrheit in der Region repräsentiert, muss sie auch politische und administrative Mitspracherechte bei der Verhandlung ihrer Zukunft haben.

Autonomie in irakischer Verfassung verankert“

Die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Autonomie liegen nach der irakischen Verfassung klar vor und müssten nur mit dem notwendigen politischen Willen angegangen werden. Eine autonome Region der Eziden in Shingal kann und wird sich zum Wohle des ganzen Landes auswirken, weil von ihr politische Stabilität ausginge. „Die jahrhundertelange und systematische Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Eziden im Nahen Osten muss endlich beendet werden, damit diese friedfertige und menschenfreundliche Religionsgemeinschaft wieder eine Zukunft hat,“ fordert unser Vorsitzender Prof. Dr. Sefik Tagay.

Tradition der Kooperation mit Südkurdistan“

Die KDP ist als wichtigste politische Kraft unter den Kurden im Nordirak in einer besonders verantwortungsvollen Position. Sie muss die Eziden in ihrem berechtigten Kampf um politische Teilhaberechte unterstützen, wenn sie weiterhin ein Garant für Sicherheit und Stabilität der nördlichen Region des Irak sein will. Die Geschichte zeigt, dass Eziden aus Shingal, wenn auch nicht faktisch zur Autonomen Region Kurdistan-Irak gehörend, immer eine politische Verbindung zu dieser Regionalverwaltung unterhielten. Ein von Eziden innerhalb des föderalen Staates selbstbestimmtes Shingal kann diese Tradition der Kooperation mit Gewinn für alle Seiten fortsetzen. Dies kann auch helfen, den seit dem Genozid entstandenen tiefen emotionalen Graben zwischen Eziden und muslimischen Kurden im gegenseitigen Interesse zu überwinden und der Anfälligkeit zur politischen Instrumentalisierung ein Ende setzen. Dies kann wiederum langfristig auch nur im Sinne des irakischen Staates sein, der seit fast zwei Jahrzehnten um politische Stabilität ringt.

Zivilbevölkerung würde militärische Eskalation nicht überleben“

Neben unserer Forderung nach Autonomie für Shingal, dem Werben für politischen und gesellschaftlichen Dialog ist es uns ein besonderes Anliegen an alle Akteure, jeglichen Versuchen einer militärischen Eskalation entschieden entgegen zu treten. Die Zivilbevölkerung, die bislang aufs Schwerste unter dem Genozid zu leiden hatte, würde dies nicht überleben.

Unser Appell richtet sich ausdrücklich auch an die internationale Staatengemeinschaft (UN), die eine Verantwortung hat, sich nach dem Genozid für die Rechte der Eziden einzusetzen und Kriege zu verhindern. Ohne politisches Engagement von außen kann der Minderheitenschutz nicht gelingen und ein ezidisches Leben im Irak nicht wieder gedeihen.“


Die GEA ist laut eigener Darstellung eine parteipolitisch unabhängige Organisation, die sich der wissenschaftlichen Erforschung der ezidischen Religion, Kultur und Historie sowie der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation der Eziden in Kurdistan und der europäischen Diaspora widmet. Der gemeinnützige Verein wurde 2012 gegründet und hat seinen Sitz in Essen. Die GEA hat bei ihrer Namensgebung auf die im deutschsprachigen Raum verbreitete Schreibweise „Yeziden“ bzw. neuerdings „Jesiden“ verzichtet und stattdessen die von der überwiegenden Mehrheit der Eziden gebrauchte Schreibweise gewählt, weil diese sich an der kurdischen Selbstbezeichnung orientiert („Êzîdî“, „Ezda“ oder „Ezdayî“; „Ezda“ bedeutet im Kurdischen: „Der, der mich erschaffen hat“). Die GEA wendet sich damit auch bewusst gegen den teilweise bis heute bestehenden Irrglauben, dass die Eziden Verehrer oder Anhänger des umayyadischen Kalifen Yazid ibn Mu’awiya (644-683 n. Chr.) seien. Da dieser bei Schiiten verhasst ist und auch bei Sunniten einen schlechten Leumund genießt, wurde die angebliche Verehrung Yazids durch die Eziden in der Vergangenheit vielfach als Grund angeführt, um Strafexpeditionen und Repressionen gegen diese zu legitimieren. Es gibt jedoch weder in den historisch überlieferten schriftlichen Quellen noch in den auf oraler Tradition basierenden religiösen Texten der Eziden (qewls) stichhaltige Beweise für eine Verbindung zwischen den Eziden und dem Umayyaden-Kalifen. „Der damit einhergehende Versuch, die Eziden als Spielart oder Sekte des Islam zu etikettieren, muss daher entschieden zurückgewiesen werden“, so die GEA.